Die unglückliche Arbeitergeneration – Lage und Proteste der städtischen ArbeiterInnen und Arbeitslosen

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[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007; zur Illustration siehe die Beiträge Die Proteste 2002 und Kämpfe in (ehemaligen) Staatsbetrieben.]

Das Proletariat in den Staatsbetrieben – die gongren (工人) – stand im Zentrum der Umstrukturierungen der achtziger und neunziger Jahre und der Massenentlassungen ab 1997. Von den Bauern und WanderarbeiterInnen unterschied es sich schon dadurch, dass ein Teil vor den Reformen gewisse Vergünstigungen genoss – garantierter Arbeitsplatz, bessere medizinische Versorgung usw. – und als feste Stütze des sozialistischen Regimes galt. Nach den Reformen gehörte das städtische Proletariat dann zu den Verlierern: Die Umstrukturierung der staatlichen Kombinate führte zu Dequalifizierung, Lohnkürzung, Prekarisierung und Entlassung von Millionen von ArbeiterInnen. Dagegen führten sie militante Kämpfe, vor allem ab 1997, die von Regierung und Parteiführung als eine der größten Bedrohungen für die soziale Stabilität gesehen werden. Sie brachten das chinesische Regime aber lediglich dazu, das Tempo der Umstrukturierung runterzufahren, stoppen konnten sie den Prozess nicht.

Viele der neuen städtischen Arbeitslosen sind vierzig Jahre alt und älter, unfähig in den neuen ökonomischen Strukturen aufzusteigen und von der alt-neuen Klasse chinesischer Kapitalisten und den ausländischen Weltmarktfabriken auf ihrer Suche nach frischen Arbeitskräften ignoriert. Sechzig Prozent der in den achtziger und neunziger Jahren aus den staatlichen Kombinaten Entlassenen sind Frauen. Sie machen nach der Entlassung vor allem prekäre Jobs.

Die Verarmung dieser städtischen ArbeiterInnen ist ein letzter Schlag gegen die «unglückliche Generation». Während der Kulturrevolution (1966-76) bekamen sie keine oder kaum Schulbildung auf den Weg, wurden von den Roten Garden drangsaliert (oder waren selber an den Exzessen beteiligt) und aufs Land geschickt, wo sie in Armut lebten und hart arbeiten mussten. Nach ihrer Rückkehr – zum Teil erst nach zehn und mehr Jahren – wurden ihnen ungelernte Jobs in den Kombinaten zugewiesen, schließlich hatten sie nichts gelernt. In den neunziger Jahren waren sie die ersten, die aus den Staatsbetrieben gefeuert wurden. Nun wartet die Altersarmut zwischen geringer Rente und prekärer Beschäftigung.

Während es heute eine breite Diskussion – in und außerhalb Chinas – über die wandernden «BauernarbeiterInnen» (mingong) gibt, die ihre Arbeitskraft in Fabriken und sweatshops, auf Baustellen, in Restaurants oder als Haushaltshilfen verkaufen, erregt das Schicksal der städtischen ArbeiterInnen weniger Aufmerksamkeit. Vor ein paar Jahren war das anders. Auf der Höhe der Welle von Arbeiterunruhen organisierten die von Umstrukturierung und Entlassung betroffenen städtischen ArbeiterInnen in einigen Gebieten – wie dem «Rostgürtel» des Nordostens – große Proteste gegen Entlassungen, Lohnrückstände, schlechtere Arbeitsbedingungen, Korruption und die Nicht-Auszahlung von Entschädigungen oder Sozialhilfe.

Miniaturgesellschaften

Der Großteil der städtischen ArbeiterInnen war in einer danwei,1 oder Arbeitseinheit, beschäftigt. 1981, zu Beginn der Reformen, arbeiteten dort 42 Prozent der gesamten industriellen Arbeitskraft. Sie produzierten 75 Prozent des industriellen Outputs. Die anderen industriellen ArbeiterInnen waren diejenigen in städtischen Kollektiven, befristet Beschäftigte in den staatlichen Kombinaten und die in ländlichen Industrien (Lee 2003: 72).

Die danwei war nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische und soziale Organisation. Nach Abschluss der Schule wurden die städtischen Jugendlichen einer danwei zugeordnet, die ihnen einen lebenslangen Arbeitsplatz, Sozialversicherung, Rente und so weiter sicherte (die sogenannte «Eiserne Reisschüssel»). Nach der Heirat stellte die danwei in der Regel auch Wohnungen, Ledige konnten in Wohnheimen leben. Wegen der umfassenden Regelung und Kontrolle des Lebens der ArbeiterInnen werden danwei auch als Miniaturgesellschaften (xiao shehui) bezeichnet.

Nach außen funktionierten die danwei als ausführende Organe der staatlichen Behörden. Im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft, in der der Staat zentral über die Produktion und die Verteilung der Ressourcen entschied, waren die danwei nicht für Gewinne oder Verluste verantwortlich, sondern gaben beide an den Staat weiter, der ihnen die notwendigen Rohstoffe und Arbeitskräfte zuwies. Nach innen sorgten die danwei zum einen dafür, dass alle arbeiteten und so zur sozialistischen Akkumulation von Kapital beitrugen. Zum anderen waren sie Einheiten staatlicher Kontrolle über die sozialen Prozesse. Ökonomische Entscheidungen wurden von politischen Motiven geleitet, zum Beispiel bei der Einstellung und Beförderung von ArbeiterInnen oder der Ausbildung von Kadern. Im Zusammenspiel mit den betrieblichen und regionalen Institutionen der Kommunistischen Partei wurden die ArbeiterInnen geschult, kontrolliert und wo nötig bestraft. Für die ArbeiterInnen war die danwei sowohl Struktur ihrer sozialen Absicherung, als auch Organ der Kontrolle und Reglementierung ihres ganzen Lebens.

Im Vergleich zu anderen Teilen des Proletariats, insbesondere LandarbeiterInnen, den Beschäftigten der Kollektive und den prekären Teilen der städtischen ArbeiterInnen, ging es denen in den danwei ökonomisch relativ gut. Ihr niedriger Lohn wurde durch die weitgehende soziale Absicherung wettgemacht. Aber die danwei-ArbeiterInnen, BesitzerInnen eines städtischen hukou, waren keinesfalls eine homogene Gruppe. In den Genuss einer vollen «Eisernen Reisschüssel» kam nur eine Minderheit von ihnen, insbesondere diejenigen, die in den großen danwei arbeiteten. Und innerhalb der danwei gab es eine Hierarchie der Beschäftigten, zunächst mal zwischen Kadern und ArbeiterInnen. Weitere Unterschiede wurden gemacht zwischen permanent Beschäftigten, befristet Beschäftigten und VertragsarbeiterInnen, zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern, Männern und Frauen, und zwischen Älteren mit langer Betriebszugehörigkeit und Jüngeren. Danach wurde zum einen die Zahl derjenigen begrenzt, die Anspruch auf die Sozialleistungen und lebenslange Arbeitsplatzgarantie hatten, zum anderen waren diese Spaltungen Grundlage der Lohnhierarchie.

Krise und neuer Despotismus

Die Krise und anschließende Reformen ab 1978 hatten verschiedene Ursachen, auf die wir hier nur kurz eingehen können. Die politischen und sozialen Umwälzungen der Kulturrevolution seit Mitte der sechziger Jahre hatten nicht nur vielerorts zu ökonomischem Chaos geführt, sondern auch den Einfluss der ArbeiterInnen auf betriebliche Entscheidungen gestärkt. Die Produktivität der chinesischen danwei war niedrig, auch weil sich die ArbeiterInnen weigerten, eine Intensivierung der Arbeit und insgesamt verschärfte Bedingungen hinzunehmen. Nachdem nach Maos Tod 1976 die «Pragmatiker» und «Technokraten» innerhalb der Kommunistischen Partei die aus der Kulturrevolution hervorgegangene Führungsschicht verdrängt hatten, gingen sie daran, die chinesische Wirtschaft zu «modernisieren». Ihr Ziel war, die Fabrikleitungen gegenüber den ArbeiterInnen zu stärken, um dann die Produktivität und die allgemeine Wirtschaftsleistung erhöhen zu können. Es ging um einen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungssprung bei gleichzeitiger Absicherung der Parteiherrschaft. Aber auch ArbeiterInnen und Bauern waren Reformen gegenüber aufgeschlossen. Sie wollten raus aus der Armut, ein Ende des sozialen Stillstands und eine Verbesserung der Lebensbedingungen.2

Die Reformen ab Ende der siebziger Jahre, initiiert auch durch die Bauern, die in manchen Landkreisen das Land der Volkskommunen an die Familie verteilten, fanden zunächst auf dem Land, später dann auch in der Stadt statt. Das KP-Regime sah nun die Chance, die Rigidität der ländlichen und städtischen Arbeiterklassen auszuhebeln. Während überall auf dem Land die private Nutzung von Grund und Boden durch die Bauernfamilien eingeführt wurde, gab es in den Städten mehrere Vorgehensweisen: Aufbau eines neuen privaten Sektors in Sonderwirtschaftszonen mit ausländischem Kapital, Umstrukturierung und Rationalisierung der alten Industrien, dabei Schließung oder «Privatisierung» der kleinen und mittleren danwei, und Erhalt der großen danwei in
strategischen Sektoren unter staatlicher Kontrolle.

Die Reformen waren keine Schocktherapie und liefen auch nicht nach einem Masterplan ab, sondern waren eher stufenweise und experimentell, nach dem Motto: «Den Fluss überqueren, indem man nach den Steinen tastet». Ökonomische, politische und soziale Prinzipien wurden je nach Passform und Opportunität angewandt. Ein «zweispuriges» System sollte sicherstellen, dass die alten Strukturen eine Zeit lang weiter existieren, während gleichzeitig neue entstehen, die später die alten ganz ersetzen. Kernpunkte der Reformen waren die Erhöhung der Befugnisse lokaler Behörden und Unternehmen, Anreize zur Effizienzsteigerung durch Belassung eines Teils der Gewinne im Betrieb, eine Deregulierung des Handels und stärkere Marktorientierung, vor allem aber die Errichtung eines neuen Arbeitsregimes, das keine lebenslangen Garantien mehr vergibt (Sozialvertrag, Eiserne Reisschüssel), sondern nur noch «vertragliche» Beziehungen von ArbeiterInnen und Arbeitgebern zulässt, mit anderen Worten: eine Kommodifizierung der Arbeitskraft. Alle Maßnahmen wurden schrittweise und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten angegangen. Manches kam erst nach dem Beitritt Chinas zur WTO in Schwung, viele Reformen sind noch (lange) nicht abgeschlossen.

Aus Sicht der ArbeiterInnen waren die Reformen der städtischen Industrien der Aufbau eines «neuen Despotismus» in den Betrieben (Lee 2003: 74). Die Stärkung der Fabrikdirektoren und Beschneidung der Kompetenzen von betrieblichen Parteistrukturen, Gewerkschaften und Arbeiterräten sowie die Aufweichung der bisherigen sozialen Garantien öffneten die Tore für einen «hire and fire»-Kapitalismus mit einer neuen Klasse von Managern, die sich aus den alten Strukturen von Armee, Partei und Verwaltung herausschälte.

Schon ab Mitte der achtziger Jahre deutete sich an, dass die Reformen nicht einfach durchgezogen werden konnten. Vielmehr war dies ein immer wieder stockender Prozess, weil der Widerstand nicht nur von den durch Umstrukturierungen betroffenen ArbeiterInnen kam, sondern auch von den danwei-Leitungen, die sich gegen ihre Aufspaltung, Schrumpfung oder Fusion wehrten. Ab 1997 nahmen mit der Intensivierung der industriellen Umstrukturierung und dem Personalabbau auch die sozialen Konflikte zu, obwohl die Regierung alle Propagandamittel einsetzte, um den ArbeiterInnen
weiszumachen, dass dies langfristig für alle Vorteile bringe.

«Freistellung» des städtischen Proletariats

Natürlich betrafen die Reformen alle, die städtischen ProletarierInnen innerhalb und außerhalb der danwei und die wieder selbständigen Bauern. Hier soll es aber um die städtischen ProletarierInnen gehen, die in den danwei arbeiteten. Sie hatten vor den Reformen als Elite der Arbeiterklasse und Stütze des sozialistischen Chinas gegolten. Für die Partei waren sie «Soldaten» des Staates. Die Reformen veränderten den Blickwinkel. Was das Regime bisher als Aufgabe sah, die Versorgung des städtischen Proletariats, sah es im Zuge der Umstrukturierung der Ökonomie als «Last». Die Umstrukturierung führte zu einer «systematischen Erosion der Arbeiterinteressen, verbunden mit harten Maßnahmen gegen die ArbeiterInnen, einschließlich Massenentlassungen, Verlust von Sozialleistungen, rücksichtslosem Vergehen gegen Arbeiterrechte und brutalen Arbeitsbeding­ungen» (Chen: 237/8). Hassard berichtet, dass im Jahr 1997 39 Prozent
der städtischen Haushalte Einkommenseinbußen hatten. Dahinter verbargen sich auch richtige Not, neue Sorgen um medizinische Rechnungen und den Schulbesuch, den Einkauf von Lebensmitteln und so weiter (Hassard: 157/8). Viele städtische ProletarierInnen erlebten durch ihre Entlassung einen Absturz als «neugeborene Marginalisierte», wurden «von der Gesellschaft fallen gelassen» und «ausgeschlossen» (Solinger 2002: 304; 2004: 52, 55). Im Gegensatz zur Mehrheit der inländischen ArbeitsmigrantInnen waren die städtischen ArbeiterInnen «abwärts mobil».

Auch wenn die Aufweichung und Auflösung der danwei die staatliche Kontrolle über das Leben der StädterInnen minderte, bedeutete das keine größere Selbstbestimmung für die Betroffenen. Ihr Leben wird nun bestimmt durch die Notwendigkeit, sich ein noch so kleines Einkommen zu sichern, um zu überleben. Oft müssen sie verschiedene Quellen anzapfen: staatliche Unterstützungen, Verwandte, informelle Beschäftigung (auch hier oft über die Familie) oder flexible und «versteckte» Beschäftigung. Einziger Lichtblick ist hier, dass viele ehemalige StaatsarbeiterInnen weiter in ihren danwei-Wohnungen leben konnten (Lee 2007: 130/1).3

Die aus den danwei Entlassenen sind meist die Älteren, die Unqualifizierten, die Frauen. Sie finden vor allem in informellen Bereichen Beschäftigung wie Straßenhandel oder als Kurierfahrer, Sicherheitsleute, auf Baustellen und so weiter. Es gibt keine Arbeitsverträge, keine Sozialversicherung, keine festen Arbeitszeiten. Oft werden sie um den Lohn betrogen. Einige von den Jobs wurden vorher nur von den mingong gemacht, den vom Land in die Städte kommenden ArbeitsmigrantInnen. Allerdings können die Städter oft kaum mit diesen konkurrieren. Die vom Lande sind jünger, mobiler und gewohnt, verschiedene Fertigkeiten zu erlernen und einzusetzen. Sie haben niedrigere Reproduktionskosten, da die Familie auf dem Land wohnt, können also für geringere Löhne arbeiten. Zudem gelten sie bei vielen Arbeitgebern als fleißiger und nicht so verwöhnt. Viele der danwei-Entlassenen haben Probleme, noch einen Job oder eine (verlässliche) Einkommensquelle zu finden.

Die Regierung spaltete die Entlassenen geschickt in verschiedene Gruppen, um gemeinsamen Kämpfen entgegenzuwirken. Es gab «offizielle» Kategorien, denen die Entlassenen zugeordnet wurden. Darunter sind die xiagang4 (wörtlich: vom Posten entlassen; freigestellt), von denen es wieder verschiedene Formen gab wie die daigang (wörtlich: auf den Posten warten), also Leute, die zwischen Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung wechseln mussten, diejenigen, die ihre Position behielten, aber keinen Lohn mehr bekamen (tingxin liuzhi), und diejenigen, die den Posten in der Firma verlassen und sich auch nicht mehr an diese wenden, ebenso wenig wie die Firma an sie (liangbuzhao). Dazu kamen Leute, die zwischen 1998 und 2001 als xiagang bei so genannten Wiederbeschäftigungszentren registriert waren, aber keine Arbeit fanden: Sie wurden dann als «Arbeitslose» (shiye) geführt und konnten für zwei Jahre staatliche Arbeitslosenunterstützung bekommen.

Andere Formen der Entlassenen waren die «internen RentnerInnen» (neitui), ArbeiterInnen, die nur noch fünf oder zehn Jahre bis zur Pensionierung hatten, ihre Verbindung zur danwei behielten und einen Teil des Lohns weiter bekamen (abhängig von der finanziellen Situation der danwei); die «Abgefundenen» (mai duan gongling), die eine bestimmte Summe bekamen, je nach Sektor und danwei, und sich danach selbst um Rentenversicherung und ähnliche Dinge kümmern mussten; und diejenigen, die auf ausgedehnten Mutterschaftsurlaub gingen, eine in den achtziger und neunziger Jahren bei der Entlassung von Frauen oft angewandte Methode. Nur einige der aufgezählten Gruppen bekamen nach der Freistellung weiter Sozialleistungen, andere bekamen nichts. Nur die eigentlichen xiagang tauchten in den offiziellen Entlassungsstatistiken auf, hatten einen (oft eher theoretischen) Anspruch auf Arbeitsvermittlung und sollten wie Arbeitslose Sozialhilfe bekommen, was aber von der wirtschaftlichen Lage der danwei abhängig blieb. Alles in allem soll die städtische Arbeitslosigkeit bis heute bei zehn bis fünfzehn Prozent liegen, allerdings mit viel höheren Zahlen in Städten des Rostgürtels.

Der Staat wollte die Folgen der Entlassungen auf mehreren Ebenen abfangen und gab vor, nach dem Motto «Den Kanal bauen, bevor das Wasser kommt» zu handeln (Hassard: 156). Der «private» Arbeitsmarkt sollte viele Entlassene aufsaugen, und Wiederbeschäftigungsprogramme sollten den xiagang Jobs in anderen staatlichen oder privaten Bereichen vermitteln – was beides aber kaum passierte. Weder wurden hier die Abwicklungsgesetze eingehalten – auch aufgrund von Korruption und Unterschlagung von Betriebsvermögen durch Kader und Manager – noch fanden die Entlassenen neue Jobs, aus Mangel an Ausbildung, wegen ihres Alters und Geschlechts. Die bereitgestellten Gelder waren zu gering oder wurden unterschlagen, und es gab zu wenige Jobs für die xiagang. Zum Teil wurden den Entlassenen die für die Leistungen erforderlichen Dokumente (xiagangzheng) einfach nicht gegeben, sodass sie auch keine Ansprüche auf Leistungen geltend machen konnten.

Als Ersatz für die wegfallenden Leistungen der danwei führte die Regierung Ende der neunziger Jahre auch die «drei Garantien» ein: eine «Existenzbeihilfe» für die xiagang (nur bis 2002), ein «Arbeitslosengeld» für alle Arbeitslose einschließlich derer aus bankrotten oder geschluckten Unternehmen, und eine «minimale Lebenshaltungskostengarantie» der lokalen Behörden für städtische Arme. Die Auszahlung setzte eine staatliche Kontrolle der persönlichen Einkommen vor­aus, was viele nicht wollten. Letztendlich waren diese Formen ineffektiv, und nur wenige bekamen die Unterstützung. Nur ein Teil der Entlassenen bekam überhaupt Kompensations- oder Unterstützungszahlungen; und die waren gering und wurden schnell eingestellt.

Das langfristige Ziel des Regimes ist, ein Versicherungssystem mit vier Säulen zu errichten: Renten, Gesundheit, Arbeitsunfall und Arbeitslosigkeit, aber die Ersetzung des danwei– gebundenen Sozialsystems durch ein staatlich oder privat finanziertes Sozialversicherungswesen kam bisher nur langsam voran, obwohl schon Mitte der achtziger Jahre Formen von Renten- und Arbeitslosenversicherung eingeführt wurden. Das ganze Vorgehen erinnert mehr an ein «Das Wasser ablassen, bevor der Abfluss fertig ist» (Cai 2002: 329).

Vorlauf und Ablauf der Kämpfe

Die großen finanziellen Einbußen und der Verlust der sozialen Absicherung stellten einen Bruch des «Sozialvertrags» zwischen städtischer Arbeiterklasse und Kommunistischer Partei dar, und führten damit auch in eine Legitimationskrise der KP-Herrschaft. Diese war bereits in den neunziger Jahren auf der Suche nach einer neuen Legitimationsbasis, die sie in den neuen (alten) städtischen Mittelklassen sowie den Kapitalistenkadern fand. Den ArbeiterInnen blieb das Aufbegehren.

Die städtischen ArbeiterInnen waren schon vor den Reformen längst nicht so fügsam, wie die strikte Organisationsform und soziale Kontrolle in den danwei vermuten lässt (siehe Sheehan). Noch 1984, als sich die Reformer der städtischen Industrie zuwandten, hatten die ArbeiterInnen große Erwartungen. Sie wollten eine deutliche Verbesserung ihrer Situation, fürchteten aber gleichzeitig eine Rückkehr der Verhältnisse vor 1949 mit unsicheren Jobs und hoher Arbeitslosigkeit. Die meisten ArbeiterInnen waren also nicht gegen die Reform an sich, welche die meisten von ihnen als notwendig ansahen, um dem Stillstand und der Armut zu entkommen. Sie wandten sich vielmehr gegen die mit den Reformen verbundene Korruption – wie in den «Demokratie» Bewegungen 1978 bis 1981 und auch 1989 –, die Ungerechtigkeiten bei der Durchführung, die wachsende Ungleichheit und die neuen Belastungen. Während Regime und Partei die «Eiserne Reisschüssel» als Ursache der Probleme ansahen, die sie durch die Reformen beseitigen wollten, galt sie den ArbeiterInnen als vielleicht einzige Errungenschaft des Sozialismus, die zu verteidigen lohnte.

Obwohl das neue Arbeitsvertragsrecht von 1986 zunächst nur wenige ArbeiterInnen betraf, brach eine Art «Jobunsicherheitspanik» aus (Sheehan: 207). Dieses Unsicherheitsgefühl, die Korruption und die neue Macht der Fabrikdirektoren, die alte Formen der Arbeitermitbestimmung – die auch früher wenig effektiv waren – aushebelten, sowie die Inflation waren Gründe dafür, dass zahlreiche ArbeiterInnen die «Demokratie»-Bewegung 1989 unterstützten. Viele hatten schon vorher an Protesten teilgenommen, und einige gründeten im Frühjahr und Sommer 1989 unabhängige
Arbeiterorganisationen, die nicht nur die eigenen Interessen im Unternehmen vertreten, sondern auch auf politischer Ebene aktiv werden sollten.

Die Proteste in den neunziger Jahren, vor allem nach 1997, waren auch eine Fortsetzung dieser Bewegungen. Dabei waren die meisten Arbeiterinnen erstmal «untätig, passiv und machtlos» (Chen: 238). Obwohl die Zahl der sozialen Kämpfe 1992 bis 1997 zunahm, passierte 1995 und 1996, am Beginn der industriellen Umstrukturierung, nicht viel, weil die ArbeiterInnen dachten, der Kelch ginge an ihnen vorbei oder es handele sich um vorübergehende Probleme. Aber das zeitweise Leiden wurden zum andauernden Schmerz. Ab 1997 hat die Zahl der sozialen Auseinandersetzungen dann stetig zugenommen. Dabei kam es vor allem zu drei Arten von Protesten: 1. Kämpfe gegen die Nichtzahlung von Löhnen und Renten; 2. Nachbarschaftskämpfe gegen schlechte staatliche Versorgung und zerfallende Infrastruktur; 3. Proteste gegen Konkurse und damit zusammenhängende Entschädigungen, Abfindungen, illegale Verkäufe oder Umstrukturierungen staatlicher Unternehmen und Korruption von Kadern. Meistens spielten sich diese Auseinandersetzungen nach demselben Muster ab: Erst traten die Betroffenen an die unmittelbar zuständigen danwei-Leiter oder Behörden heran und stellten ihre Forderungen. In der Regel ging es um Geld oder konkrete Bedingungen, selten wurden auch politische Forderungen gestellt, allenfalls mal die Absetzung eines korrupten Beamten oder Kaders. Wenn sie keine (zufriedenstellende) Reaktion bekamen, gingen sie in der staatlichen Hierarchie eine Stelle höher, meistens über eine Petition, und pochten auf die Einhaltung von Gesetzen. Diese Petitionen oder die Vorsprache bei der Regierung haben in China eine lange Tradition und werden weitgehend geduldet, solange sich die Bittsteller an die vorgeschriebenen Prozeduren halten und nicht zu viel Chaos stiften. Wenn auch dies nichts einbrachte und sich die staatlichen Stellen ignorant zeigten, konnte es zu einer Eskalation auf der Straße kommen (Lee 2007: 112). In der Regel vermieden die Beteiligten auch hier noch, sich mit ArbeiterInnen anderer Betriebe und Regionen oder anderen sozialen Gruppen zu koordinieren, weil sie wussten, dass dann der Staat repressiv eingreift.

Gespaltene Akteure

Das Kalkül des Regimes, durch die Schaffung unterschiedlicher «Kategorien» von gongren deren Zusammenkommen in sozialen Auseinandersetzungen zu verhindern, ist bisher weitgehend aufge­gangen. Die gongren selber unterscheiden in ihren Auseinandersetzungen zwischen Rentner­Innen, Freigestellten (xiagang), Arbeitslosen und ArbeiterInnen, die alle ihre eigenen Kämpfe führen. Zwar funktionieren die danwei-Gemeinschaften noch halbwegs, weil viele gongren in den neunziger Jahren ihre Wohnung gekauft haben und die alten Wohnviertel der Ort sind, an dem die Informationen zirkulieren und die Diskussionen über möglichen Widerstand geführt werden, aber da die einzelnen Gruppen mittlerweile unterschiedliche Bedingungen und Forderungen (nach Renten oder Löhnen oder Arbeitslosengeld oder dem Erhalt der Arbeitsplätze) haben, laufen die Kämpfe meistens getrennt. Lee nennt in dem Zusammenhang den Begriff «zellularen Aktivismus» (Lee 2007: 72).

Die Kampfformen der verschiedenen Akteure unterscheiden sich. Die xiagang oder Arbeitslosen können – ebenso wie die RentnerInnen – nicht streiken. Sie sind schon außerhalb des Betriebs, und sie kämpfen «zu spät» gegen die Maßnahmen, die sie in ihre prekäre Lage gebracht haben. Weston sieht das als Schwäche der Kämpfe: «Da die meisten Beteiligten der Proteste entweder freigestellt worden waren (xiagang) oder formal arbeitslos, hatten sie kaum die Fähigkeit, die Produktionsabläufe der Fabriken zu stören» (Weston: 70). Oft kämpften sie noch Monate oder Jahre nach Schließungen oder Entlassungen, weil sie keine Unterstützung bekamen. Sie waren angewiesen, eine andere «Störungsmacht» zu entwickeln, und machten Randale, kampierten außerhalb von Regierungsgebäuden und blockierten Verkehrsadern, um die Behörden zu zwingen, aktiv zu werden.

Die danwei-ArbeiterInnen, die noch im Betrieb waren, kämpften gegen Restrukturierungsmaßnahmen, die gegen ihre Interessen liefen. Ihre Kämpfe brachen oft «spontan» aus, aufgrund plötzlicher Missstände, gegen ein Umstrukturierungsprogramm oder geplante Entlassungen. Dieses «spontan» bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Planung und Zusammenhalt, sondern nur dass es keine formale Organisation und Führung gibt (Lee 2007: 80). Sie wollten das Programm noch verhindern und verlangten eine Mitsprache oder machten Eigentumsansprüche geltend. Ausgangspunkt für die Kämpfe der danwei-ArbeiterInnen waren unter anderem Arbeitsverträge, Löhne, Zulagen, Renten, Abfindungen – vor allem aber geplante Entlassungen, miese Arbeitsbedingungen und despotisches Management, sowie Korruption oder Unterschlagung durch die Betriebsleitungen. Zum Teil wurden die ArbeiterInnen noch Anfang der neunziger Jahre gezwungen, Anteilsscheine ihrer maroden Betriebe zu kaufen. Ein paar Jahre später machte der Betrieb dann dicht und wurde von den Managern vorher noch ausgeschlachtet, ein Grund für die immense Wut auf die Fabrikdirektoren und lokalen Kader.

Hier spielt auch eine Rolle, dass die danwei-Fabriken nach wie vor nach offiziellem Dogma öffentliches Eigentum waren und sind. Auch wenn die meisten betroffenen ArbeiterInnen nur zynisch über ihr Dasein als «Herren der Betriebe» sprechen, so wissen sie um ihren lebenslang erbrachten Anteil am Aufbau der Fabriken. Sie hatten zwar eine Arbeitsplatzgarantie, aber oft auch niedrige Löhne. Jetzt sollen sie die Jobs und ihre Ansprüche auf Renten verlieren – und ihre gesellschaftlichen Beziehungen, die über die danwei liefen. Sie sehen ihren Widerstand gegen die Umstrukturierung als «gerechtfertigt» (Chen: 246) und wollen Mitsprache bei der Durchführung der Reformen. 5 ArbeiterInnen, denen Entlassungen drohten, benutzten Parolen wie «Gebt mir die Fabrik zurück» (Chen: 248). Zuweilen besetzen sie die Fabrik (hu chang), um damit die
Umstrukturierung zu blockieren.6 Streiks sind keine Alternative, weil die Betriebe während der Umstrukturierung oft nicht voll laufen. Manchmal nehmen die Kämpfe auch die Form eines «Verhandeln durch Randale» (Chen: 251) an, bei dem die Betroffenen Verwaltungsgebäude, Rathäuser oder für ihre Misere Verantwortliche angriffen.

Die Störungsmacht der gongren

Viele unzufriedene ArbeiterInnen, ob noch in der danwei arbeitende oder schon arbeitslose, «benutzen die proletarische Rhetorik aus der Mao-Zeit, um sich für soziale Gerechtigkeit im neuen wirtschaftlichen Umfeld einzusetzen. Sie formulierten ihre Forderungen in Klassenbegriffen, mit denen die Behörden schlecht umgehen können» (Hassard: 138). Der Widerstand der danwei-ArbeiterInnen gegen die Entlassungen war oft auch durch eine Art «moralischer Ökonomie» motiviert. Sie bezogen sich auf Rechte aus der Vergangenheit, maßen die erlittenen Ungerechtigkeiten an Normen des Sozialismus oder gar der Kulturrevolution. Daraus entwickelten sie eine Art kollektiven Aktionsrahmen, bei dem die alte «kommunistische» Rhetorik herhielt, um die illegitime Ungleichheit und die neuen Ungerechtigkeiten zu geißeln. Zuweilen entstand eine Art imaginärer Maoismus, bei dem die Vergangenheit zu einer Zeit verklärt wird, in der die
ArbeiterInnen noch glücklich und zufrieden waren. Das gilt vor allem für die älteren, mittlerweile verrenteten StaatsarbeiterInnen. Andere bezogen sich auf die Positionen der kulturrevolutionären «Rebellen»: «Während der Kulturrevolution (1966-76) verbreitete sich bei den radikaleren, an der Bewegung Beteiligten die Vorstellung, dass die Kommunistische Partei Chinas eine neue, ausbeuterische Herrscherklasse ist, die den Arbeiterklassen Mehrwert abpresst und ihre Privilegien an ihre Nachkommen weiter gibt. Diese Vorstellung nahmen viele von ihnen mit in die späten siebziger und frühen achtziger Jahre, als sich Chinas Demokratiebewegung zum ersten Mal regte» (Hassard: 161/2). Der Eindruck, den die polnische Solidarnosc-Bewegung Anfang der achtziger Jahre machte, unterstützte die Vorstellung einer Ausbeutung durch die sozialistische Bourgeoisie weiter.

Von außen schienen die Kämpfe oft «unorganisiert und führungslos» (Chen: 251). Tatsächlich wurden und werden kollektive Proteste und Demonstrationen, auch gegen lokale Behörden, oft durch (ehemalige) Vorarbeiter oder Kader koordiniert, die ihre «angestammte» Führungsrolle spielen und ihre «legitimen» Rechte einfordern. Sie wirken als Arbeitermilitante und wägen ab, wie sie eingreifen. Oft tauchen sie nur als Berater auf, weil eine offene oder verdeckte Organisierung zu riskant wäre. Nur wenige Leute wagen, firmenübergreifende Aktionen zu organisieren.

Auch wenn Proteste und Selbstorganisation von ArbeiterInnen meist lokal begrenzt, sporadisch und kurzlebig sind, so ergibt sich die Durchsetzungsmacht der einzelnen Kämpfe aus ihrem häufigen Auftreten und aus der Angst des Regimes vor einer Ausbreitung der Bewegung und ihrer Ausrichtung gegen den Staat oder die Rolle der Kommunistischen Partei als einzige politische Führungsmacht. Die Angst ist begründet, zumal die direkten Auseinandersetzungen zwischen Staat und Arbeiterbewegungen lange Zeit zunahmen. «Die Arbeiterklasse verwandelt sich von einer stabilisierenden Kraft in eine potentiell störende Macht innerhalb der chinesischen Gesellschaft» (Cai 2006: 185). Das hat mehrere Gründe: Ohne funktionierende Sozialsysteme richten sich protestierende Arme an die Regierung mit der Forderung nach Absicherung und Einkommen; die lokalen Regierungen sind zudem direkte Akteure der Reformen und Betriebsschließungen; und die offensichtliche Korruption und die Veruntreuung und der Diebstahl staatlichen Eigentums durch KP-Funktionäre, Fabrikdirektoren und Verwaltungschefs lässt viele auch deswegen nach dem Eingreifen des Staates rufen – oder eben selbst Hand anlegen und die Verantwortlichen angreifen.

Dass bis auf einige prominente Ausnahmen die meisten Mobilisierungen relativ klein blieben, lag auch daran, dass viele der großen danwei verschont wurden oder mehr Geld locker machen konnten. Aber sobald friedliche und moderate Methoden nicht halfen, kam es zu Radikalisierung und gewalttätigen Protesten. Die Kämpfe ab 1997 haben dazu geführt, dass die Entlassungen der 20 bis 50 Millionen überschüssigen Arbeitskräfte nicht so schnell vorgenommen wurden, wie das ursprünglich geplant war. Aber auch wenn die Fristen für anvisierte Entlassungen in einigen Industrien verschoben wurden, die Reform selber wurde durchgeführt.

Zuckerbrot und Peitsche

Spätestens nach 1997, im Zuge der Umstrukturierung der staatlichen Industrien und der Entlassungen, musste das Regime Maßnahmen zur Eindämmung der Kämpfe ergreifen. Zunächst machte es sich die Dezentralisierung der politischen und ökonomischen Entscheidungen zunutze, die Behörden auf kommunaler und provinzieller Ebene mehr Einfluss und Macht gab. Sie waren das erste Ziel der Angriffe der Bauern, WanderarbeiterInnen und städtischen ProletarierInnen. Die Zentralregierung in Beijing griff nur in Kämpfe ein, wenn die lokalen Auseinandersetzungen außer Kontrolle gerieten oder explosiv wurden. Bis heute lautet die Anweisung der Zentrale an die lokalen Behörden, dass sie «unerwartete Ereignisse» (tufa shijian) entschärfen sollen. Bei privaten Unternehmen ist der direkte Einfluss der lokalen Behörden meist gering. Sie greifen dort nur über die Gewerkschaften oder die Arbeitsbehörde ein. Aber bei den staatlichen Unternehmen spielen sie eine wichtige Rolle und können die Firmenleitungen unter Druck setzen (wenn sie das wollen). Es passiert aber nur etwas, wenn die ArbeiterInnen die Initiative ergreifen, offen Widerstand leisten und so Druck ausüben.

Bei den Kämpfen wandte der Staat bisher eine Art «Zuckerbrot und Peitsche»-Strategie an. Zum einen will er die ArbeiterInnen beschwichtigen, indem er versucht, durch Nachgeben bei Forderungen oder durch Abfindungen und Sozialhilfe die Folgen der Entlassungen und Freistellungen zu lindern.7 Lee spricht in diesem Zusammenhang von «Sicherheitsventilen», um den Kämpfenden zu ermöglichen, «Dampf abzulassen» (Lee 2003: 83). Dabei spielten auch die ab 1987 neu geschaffenen Schlichtungsorgane eine Rolle, die sich aus Arbeitsbehörde, Gewerkschaften und staatlicher Wirtschaftsverwaltung zusammensetzten, und eine Eskalation von Streitigkeiten verhindern sollten. Eine
schnelle Befriedung hängt aber auch von den finanziellen Möglichkeiten der betroffenen Gemeinde oder danwei ab, die sozialen Folgen von Entlassungen abzufedern oder Lohnrückstände auszugleichen. Gemeinden und danwei in den prosperierenden Küstenregionen hatten dafür genug finanzielle Mittel, nicht aber die an der «dritten Front», in den Provinzen des Südwestens und des Nordostens. Und nur die großen danwei konnten sich das leisten, die kleinen und mittleren hatten dafür kein Geld, sodass es hier auch zu den meisten Kämpfen kam.

Die Strategie, nur den kämpferischen ArbeiterInnen nachzugeben, schuf auch Probleme. «Die Erfüllung von Forderungen derjenigen, die in den heftigsten Ausbrüchen von Unruhen verwickelt waren, schuf eine Art Präzedenzfall für die ArbeiterInnen, die perfekte Ausrede für Störungen und Unordnung» (Hassard: 150). Interessant ist, dass dies schon in den fünfziger Jahren ähnlich lief, als ArbeiterInnen gegen die Betriebsleitungen streikten, weil sie wussten, dass diese nach dem Motto verfuhren: «Die Guten drangsalieren, aber vor den Schlechten in Acht nehmen» (Sheehan: 74).

Die Peitsche sahen vor allem die «Organisatoren» der Proteste. Aufmüpfige ArbeiterInnen und vermeintliche «Rädelsführer» wurden und werden verhaftet und zu langen Haftstrafen oder Arbeitslager verurteilt, um die anderen ArbeiterInnen von der weiteren Beteiligung an Streiks und Demonstrationen abzubringen – in anderen Worten: «Das Huhn töten, um den Affen einzuschüchtern» (Weston: 78). Besonders hart gehen die Behörden weiter gegen firmen- oder regionen-übergreifende Mobilisierungen und unabhängige Gewerkschaften vor.

Die Propaganda, dass die ArbeiterInnen die Härten ertragen müssen, damit die Reformen Erfolg haben, geht weiter: Sie sollen sich fürs Kollektiv aufopfern, für den Staat, sollen ihre eigenen Inter­essen zurückstellen. Aber das Regime hat auch auf den Druck der Kämpfe reagiert: Verlangsamung der Umstrukturierung, Verlängerung der Fristen für die Entlassungen (von 2000 auf 2003), Aufsetzung neuer Sozialprogramme… und letztendlich mit der Regierungsübergabe 2002/3 ein neuer Fokus auf die soziale Stabilität. Die Reform der Staatsgewerkschaften und der Aufbau eines Tarifsystems, das sich die chinesische Führung bei mitteleuropäischen «Sozialpartnerschaften» abschaut, soll eine Explosion der sozialen Kämpfe verhindern. Zwar ist die Partei-Losung mit dem Aufbau einer «Harmonischen Gesellschaft» als Drohung zu verstehen gegen all jene, die sich ganz unharmonisch für ihre Interessen einsetzen, aber der Staat ist bemüht, größeren Konfrontationen aus dem Weg zu gehen und Blutvergießen zu vermeiden. Aber wie lange noch? Die Umstrukturierung der unprofitablen danwei ist noch nicht abgeschlossen und wird weiteren sozialen Sprengstoff zünden.


Literatur

Cai Yongshun (2002): The Resistance of Chinese Laid-off Workers in the Reform Period. China Quarterly, No. 170, 2002

Cai Yongshun (2006): The weakening of workers’ power in China. In: Brodsgaard, Kjeld Erik; Zheng Yongnian (eds.): The Chinese Communist Party in Reform. London

Feng Chen (2003): Industrial Restructuring and Workers’ Resis­tance in China. In: Modern China, Vol. 29, No. 2, April 2003

Hassard, John / Sheehan, Jackie / Zhou Meixiang / Terpstra-Tong, Jane / Morris, Jonathan (2007): China’s State Enterprise Reform. From Marx to the market. London/New York

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Ya Ping Wang (2004): Urban Poverty, Housing and Social Change in China. London/New York


Fußnoten

1 Formal werden drei Arten von danwei unterschieden: industrielle Betriebe, Dienstleistungsbetriebe und verwaltende Institutionen.

2 Die Reformen hatten weitere Ursachen, wirtschaftliche, politische und geopolitische: Die «Tiger-Staaten» waren Ende der siebziger Jahre schon im Aufwind und zeigten, dass eine «nationale» wirtschaftliche Entwicklung im Rahmen eines autoritären Regimes möglich war. Für China war besonders wichtig, dass drei der vier «Tiger» chinesisch waren: Taiwan, Hongkong und Singapur (der vierte war Südkorea). Besonders der Aufstieg Taiwans forderte Reaktionen der Volksrepublik heraus. Während vor allem japanisches Kapital in die Tiger investiert hatte, um das billige Arbeitskräftereservoir dort anzuzapfen, pumpten ab Ende der siebziger Jahre in den Tigern ansässige, chinesischstämmige Händler, Banker und Unternehmer Kapital in die neuen Industrien der VR China. Chinas Anpassung an den Weltmarkt fand im Rahmen der Internationalisierung des Kapitals ab Mitte der 70er Jahre, dem Beginn der neuen Phase der sogenannten «Globalisierung» statt.

3 Lee sieht in der Tatsache, dass viele gongren ihre Wohnungen kaufen oder weiter billig mieten konnten, einen Grund für die relative soziale Stabilität trotz der dramatischen Folgen der Umstrukturierungen in den Rostgürteln (Lee 2007: 125).

4 «Offiziell gelten als xiagang-ArbeiterIn all jene, die diese Bedingungen erfüllen: 1) Er oder sie hat vor dem [Arbeits-] Vertragssystem von 1986 mit der Arbeit begonnen und eine formelle, permanente Anstellung im staatlichen Sektor (plus die VertragsarbeiterInnen, deren Vertrag noch nicht ausgelaufen ist); 2) Er oder sie musste wegen der wirtschaftlichen oder betrieblichen Schwierigkeiten des Unternehmens gehen, hat aber bisher die Verbindungen mit dieser Firma nicht abgebrochen; 3) Er oder sie hat in der Gesellschaft noch keine andere Arbeit gefunden.» (Solinger 2004: 63, Fußnote 16).

5 Ein Unterschied zu den ArbeiterInnen in den privaten Firmen, die keine Ansprüche auf «Eigentum» stellen.

6 Auch hier beziehen sie sich auf historische Parallelen, nämlich die Aufstellung von «Arbeiterschutzgruppen» (gongren jiuchadui) gegen Sabotage-Akte der Guomindang kurz vor der Machtübernahme 1949.

7 Die Absicherung der Abfindungen und Renten der danwei-ArbeiterInnen hat den Staat umgerechnet hunderte Millionen Euro gekostet, was er über die Staatsbanken finanziert hat.

 

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