Überleben als Mingong


[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007; er illustriert den Artikel Unbequeme Filme in unbequemen Zeiten.]

Dies ist ein Dialogauszug der ersten Episode der 32-teiligen Fernsehserie «shengcun zhi mingong» (Überleben als mingong), die 2005 ausgestrahlt wurde und in China großen Erfolg hatte. Der 38-jährige Regisseur Guan Hu beschäftigte etwa vierzig mingong als Schauspieler [Aus: Reeve, Charles/Xi Xuanwu (2008): China Blues. Voyage au pays de l’harmonie précaire. Paris]:

Hunderte Arbeiter warten. Es ist ruhig, die Stimmung gedrückt. Sie sitzen auf der Erde oder lehnen an den Wänden der Baracken einer großen Baustelle. Einer steht auf.

Xiao: Wir können nicht länger warten. Wenn sie uns keinen Lohn geben, wie kommen wir dann aufs Land zurück?

Ye: Die Ernte wartet auf uns. Das ist eine ernste Angelegenheit!

Zhou: Wenn uns heute niemand Geld gibt, wie kommen wir dann zurück?

Stimmen: Da kommt der alte Xie [der Polier] zurück.

Xie, ein kleiner Mann, geht durch das Eingangsgitter der Baustelle. Er trägt eine Mappe unter dem Arm. Er läuft auf die Gruppe zu, die ihn schweigend umringt.

Xie: Was macht ihr hier? Wohin geht ihr? Was habt ihr denn?

Xiao: Wir wollen unser Geld!

Zhou: Wenn du nicht zurückgekommen wärst, hätten wir dich geholt!

Xie: Scheißtyp! Wo sollte ich denn eurer Meinung nach hingehen? Ich war unterwegs, um für alle Geld zu holen. Ich weiß, ihr wartet seit einigen Tagen auf mich, aber ich bin die ganze Zeit rumgelaufen. Heute bin ich den ganzen Tag wegen euch am Suchen gewesen und habe niemanden gefunden. Was soll ich denn machen? Ihr müsst mir weiter vertrauen. Ich versuche nicht, euch übers Ohr zu hauen. Ich weiß, dass ihr beunruhigt seid, aber ich bin es noch mehr als ihr. Seht, ich verliere meine Haare…

Xiao: [Richtet sich an die Menge] Es ist wahr, er ist beunruhigt.

Xie: Ich bin genau so ein Kerl wie ihr.

Ye: Glaubst du wirklich, du bist wie ich? Wir beide haben nichts miteinander zu tun. Wenn du wie ich wärst, wenn du denselben Namen wie ich tragen würdest, würden sich meine Ahnen im Grab umdrehen! Und sie würden sich beeilen, ihren Namen zu ändern!

Zhou: Wir scheißen darauf, was du denkst, alter Xie. Hast du uns nicht gesagt, du würdest mit Geld zurückkommen?

Xie: Das Geld ist da. Es ist im Büro im Panzerschrank. Aber ihr seht doch, dass niemand da ist. Was soll ich da machen?

Hu: Wir haben keine Zeit mehr zu warten! Wir müssen zur Ernte aufs Land zurück.

Die Gemüter erhitzen sich, es wird geschrien, gestikuliert. Der Polier wird umringt und aggressiv angegangen.

Xie: Hört mir eine Sekunde zu! Für die Leute in der Stadt ist heute Sonntag, also Wochenende. Ich bin zum Unternehmenssitz gegangen, aber es war keiner da. Ich habe den ganzen Vormittag gewartet, aber niemand kam! Dann am Nachmittag, auch niemand! Was kann ich da machen? Ich habe seit heute morgen nichts gegessen und keinen Tropfen getrunken…

Xiao: Das ist hart für dich, armer Alter!

Xie ruft einen Jungen, der mit leerer Miene etwas abseits steht.

Xie: Was ist mit dir los? Komm her!

Ye: Lass ihn in Ruhe. Denkst du, wir wüssten über deine Tricks nicht Bescheid? Idiot! Du willst uns nur wieder verarschen. Du verbringst den Tag mit Trinken und Kartenspielen, oder etwa nicht? Wir wissen Bescheid. Also hör auf damit!

Xie: Du erzählst alles Mögliche. Was weißt du denn schon, Hurensohn!

Es folgt ein Handgemenge. Jemand stößt Xie. Die Menge wird unruhig.

Eine Stimme: Es macht doch keinen Sinn, sich zu prügeln!

Ein junger Kerl, der daneben gestanden hatte, packt mit hartem und entschlossenem Blick einen Maurerhammer und ruft.

Yang: Geht zur Seite! Macht Platz!

Er geht auf die Bürobaracke zu, deren Tür mit einem Vorhängeschloss versperrt ist. Die Menge vor ihm öffnet sich und mehrere Arbeiter schließen sich ihm an. Xie stellt sich vor die Tür.

Xie: Das kannst du nicht machen!

Stimmen: Geh weg, hau ab!

Xie: Ich will dir was sagen, Yang Zhigang [der Junge mit dem Hammer]. Was du da machst, ist illegal! Wenn dir dein Geld scheißegal ist, den anderen sicher nicht.

Xiao: Xie, verpiss dich! Hau ab!

Yang Zhigang lässt mit einem Hammerschlag das Vorhängeschloss aufspringen. Er dringt gefolgt von einigen Arbeitern in die Bude ein. Der Raum ist leer. Es gibt keinen Panzerschrank mehr, Papiere fliegen auf dem Boden herum, alles wurde ausgeräumt.

Xiao: [Geht raus und ruft zur Menge draußen] Wir stecken in der Scheiße! Das gibt’s doch nicht. Der Panzerschrank ist weg! Letzte Nacht habe ich den Lärm gehört. Dieses Mal gibt es wirklich kein Geld.

Der verdutzte Xie verdrückt sich leise zur Seite. Die Menge wird unruhig.

Dong: Ich weiß, wo ihre Verwaltungsbüros sind. Lasst uns hingehen!

Die Menge nimmt den Vorschlag auf. «Los jetzt!» «Lasst und hingehen!» Alle Arbeiter verlassen die Baustelle. Unter den erstaunten Blicken der Passanten ziehen sie dicht zusammen laufend
und mit entschlossenem Schritt die Straße runter, an der Spitze, zwischen einigen anderen, Yang Zhigang.

Xiao: [Dreht sich um und wendet sich an den Arbeiter, der den Polier fertig gemacht hatte und der sich nicht dem Zug angeschlossen hatte.] Warum stehst du noch da? Komm mit uns zur Zentrale. Wenn wir dahin gehen, müssen alle mit!

Yang: Einverstanden!

Der Polier steht wie angewurzelt und bleibt allein auf dem Platz zurück.

 

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