Vorwort der deutschen Ausgabe von “Streiks im Perlflussdelta”

von Ralf Ruckus


[Hao Ren u.a.: Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Wien, 2014]

Das chinesische Original des Buches Streiks im Perflussdelta – ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken erschien Ende 2011 im Selbstverlag. Es stellt die Ergebnisse einer Untersuchung von Arbeitermobilisierungen in den Industriezentren Shenzhen und Dongguan vor. Junge AktivistInnen, selbst in diversen Betrieben beschäftigt, interviewten zwischen 2010 und 2011 ArbeiterInnen, die in den zehn Jahren davor an Streiks beteiligt waren, und stellten das Buch im Anschluss aus Streikberichten und Kommentaren zusammen. Im Unterschied zu ähnlichen Arbeiterinterview-Projekten, die von Universitäten oder Nichtregierungsorganisationen und ihren kirchlichen oder gewerkschaftlichen Sponsoren bestimmt wurden, folgen die AutorInnen hier einem Erkenntnis- und Veränderungsdrang, der auch auf ihren eigenen Ausbeutungserfahrungen beruht.

Bisher gibt es nur wenige unabhängige Zusammenhänge in China, die solche Untersuchungen durchführen. Die deutliche Zunahme der Wanderarbeiterstreiks in den letzten Jahren hat jedoch ein neues soziales Klima geschaffen, sodass sich heute mehr Leute für die Klassenauseinandersetzungen interessieren und – unter Ausnutzung der Lücken in der staatlichen Kontrolle und Repression – Arbeiterkämpfe unterstützen. Einige von ihnen suchen sich in den Industriegebieten Arbeit, nutzen ihre Smartphones, um Interviews und Filme zu den Arbeits- und Lebensbedingungen zu machen und veröffentlichen im Internet Fabriktagebücher und Zeugnisse von ArbeiterInnen über ihre Probleme, Erwartungen und Kämpfe.

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war, dass die AutorInnen selbst wenig über die zunehmenden kollektiven Arbeiterkämpfe wussten, gleichzeitig jedoch eine Zunahme der Arbeiterunzufriedenheit und damit der Kämpfe erwarteten – auch angesichts der Wirtschaftskrise und den aktuellen Preissteigerungen. Ihrer Meinung nach fehlt es den ArbeiterInnen noch an Erfahrungen und strategischem Verständnis, sodass sie sich in den Klassenkämpfen noch nicht durchsetzen können. Damit sich das ändert, wollen sie die unterschiedlichen Streik erfahrungen zirkulieren lassen. Andere ArbeiterInnen sollen daraus lernen und sich besser auf zukünftige Streiks vorbereiten können. In den aus den Arbeiterinterviews generierten Streikberichten geht es demnach nicht nur um den Ablauf der Arbeiterkämpfe, sondern auch um konkrete Informationen zu Schwachstellen in der Produktionskette, günstige Zeitpunkte, um loszuschlagen, Hinweise auf Bestechungsversuche durch Firmenleitungen, den Umgang mit Repression und Tipps zur Vermeidung von Stolpersteinen im Arbeiterkampf.

In ihrem Einleitungsbeitrag für das Buch gehen die AutorInnen auf die verschiedenen Entwicklungsphasen des Arbeiterwiderstands an Chinas Ostküste in den letzten zwanzig Jahren ein und fassen die ökonomischen und politischen Veränderungen zusammen. Um die konkreten Kampferfahrungen vergleichen und Schlüsse daraus ziehen zu können, haben die AutorInnen die anschließenden Streikberichte nach den Auslösern und wichtigsten Konfliktpunkten sortiert: Streiks gegen Fabrikschließungen oder Verlagerungen, die oft in Verbindung mit Lohnraub stattfinden; Streiks gegen Lohnsenkungen, die oft einhergehen mit Arbeitsverdichtung und Arbeitszeitverlängerung; Streiks für Lohnerhöhungen, also offensive Kämpfe für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Zudem schauen sich die AutorInnen die Rollen verschiedener AkteurInnen an, von einfachen StreikteilnehmerInnen und StreikanführerInnen, sowie von ungelernten ArbeiterInnen und FacharbeiterInnen. Dabei geht es sowohl um Spaltungen und unterschiedliche Perspektiven im Alltag, als auch deren mögliche (vorübergehende) Aufhebung im Kampf.

Die Stärke dieser Untersuchung liegt darin, dass sie sich an den realen Ausbeutungsbedingungen orientiert und die ArbeiterInnen – als zentrale AkteurInnen im Klassenkampf – in den Mittelpunkt stellt. An einigen Stellen scheint durch, dass die AutorInnen die linken Illusionen über unabhängige gewerkschaftliche Organisation und sogenanntes Klassenbewusstsein noch nicht hinter sich gelassen haben. Die Berichte zeigen jedoch die alltägliche Kooperation und Widerständigkeit als Quelle von Arbeitermacht ebenso wie die Widersprüche und das Potential der Streikaktionen. Somit sind sie wertvolles Material für die Diskussion über den Stand der Auseinandersetzungen und mögliche Perspektiven, die sich aus den Streiks und nicht zuletzt ihrem vorläufigen Höhepunkt, der von der Automobilindustrie im Perlflussdelta ausgehenden Streikwelle 2010, ergeben können. Durch die Zunahme der Streiks hat sich der Druck auf Kapital und Staat in China verstärkt und beide zu Reformen und repressiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Zwar werden diese Streiks nicht automatisch zu einer grundlegenden Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse in China und darüber hinaus führen, aber die Berichte in diesem Buch zeigen das Verlangen nach Veränderung und illustrieren, wie sich eine neue Arbeiterklasse herausbildet, die eine solche grundlegende Umwälzung erst möglich macht.

 

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