Erzählung: Streik in Shenzhen (2009)


[Erzählung aus Hao Ren u.a.: Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Wien, 2014. Interview vom 16. Mai 2010; Teil II – Kämpfe gegen Lohnsenkungen – StreikanführerInnen]

Bei ist 25 Jahre alt. Er gehört zur ethnischen Gruppe der Yi und wuchs in einem Dorf in der Provinz Yunnan auf. Nachdem er die untere Mittelschule abgebrochen hatte, arbeitete er auf dem Bauernhof. Er wollte raus aus dem Dorf, wollte was von der Welt sehen und ging deswegen in eine Kleinstadt. Auf einer technischen Schule lernte er im Hauptfach Elektronik. Im Jahr 2004 wurde er nach nur zwei Monaten Unterricht von seiner Schule nach Shenzhen geschickt, um ein Praktikum zu machen. In Wirklichkeit war er dort einfacher Produktionsarbeiter. So begann sein Leben in der Fabrik. In seiner Freizeit singt Bei gerne. In seinen Jahren in Shenzhen traf er sich regelmäßig mit musikalischen KollegInnen. Zwei Jahre lang produzierten sie diverse Arbeiterlieder und stellten die Gesangsaufnahmen ins Internet. In der Fabrik, in der er heute arbeitet, ist jedoch so viel zu tun, dass er kaum Zeit hat, an solchen Freizeitaktivitäten teilzunehmen.

Die längste Zeit, nämlich drei Jahre, arbeitete Bei in einer taiwanesischen Fabrik in Shenzhen, in der Niedrigfrequenz-Transformatoren für elektrische Geräte hergestellt wurden. Der größte Teil der Produktion ging in den Export nach Indien und in Länder Südostasiens, der Rest wurde im Inland verkauft. Der Besitzer besaß außer dieser noch zwei weitere Fabriken, eine in der Provinz Jiangsu und eine in Taiwan. Zusammengenommen hatten sie 5.000 bis 6.000 Beschäftigte, in Beis Fabrik alleine etwa 1.500, darunter vor allem Frauen der 1980er oder 1990er Generation. In den Werkhallen waren weniger als zehn Prozent der ArbeiterInnen älter als dreißig Jahre. Bei war einige Monate lang einfacher Produktionsarbeiter, dann zwei Monate Techniker und danach zwei Jahre lang Gruppenleiter. In der Zeit kam es zu einem Streik, und nicht lange nach dessen erfolgreichem Abschluss kündigte er. Bis dahin hatte er einen relativ ruhigen Job, trotz drängender Auftragstermine und der Auflage, die Produktionsvorgaben zu schaffen. Alle halbe Stunde machte er einen Kontrollgang und kümmerte sich um Probleme im Produktionsablauf. Normalerweise hatte er dann noch genug Zeit, im Gruppenleiterbüro neben der Werkhalle abzuhängen, Tee zu trinken, Zeitung zu lesen und sich zu unterhalten.

In der Firmenhierarchie stand der Firmenchef an oberster Stelle. Mit den Managern sprach er oft, und auch mit den ArbeiterInnen unterhielt er sich gelegentlich persönlich. So war er genaustens vertraut mit der Lage in der Produktion. In der Fabrik hing ein großes Spruchband: „Die Beschäftigten sind der Reichtum des Unternehmens. Für die Beschäftigten zu sorgen bedeutet also, den Reichtum des Unternehmens zu pflegen.“ Der Firmenchef nahm das wörtlich und betonte, wie sehr er die ArbeiterInnen schätze. Es gab zum Beispiel einen Beschwerdebriefkasten, um den er sich selbst kümmerte. Wenn eine wichtige Beschwerde einging, ließ er einen Aushang machen und versprach, das Problem zu lösen. Der Name der Beschwerdeführerin wurde nicht preisgegeben. Wenn der Firmenchef in der Werkhalle mitbekam, wie seine Manager ArbeiterInnen zurechtwiesen, sagte er oft: „Wie können Sie es wagen, meine Angestellten so zu…“ Dieses „meine Angestellten“ führte er oft im Mund. Von oben nach unten bestand ein stilles Einvernehmen, dass Leute nicht zurechtgewiesen werden durften – wenigstens nicht in der Werkhalle vor allen anderen. Im Fall von Beschwerden sollten die Leute ins Büro eingeladen werden, um die Sache in Ruhe zu klären. Laut Bei war der Firmenchef vom Gruppenleiter aufgestiegen war, kannte sich also mit Führungsstrategien aus und wusste, wie wichtig die unteren Ränge sind. Die Manager hatten genaue Anweisungen, wie sie die 1980er beziehungsweise die 1990er Generation behandeln sollten. Oft hielt er Schulungen ab. Er war so redegewandt, dass sich die Manager Notizen machten, um daraus zu lernen. Zweimal im Jahr lud lud er die gesamte Belegschaft, einschließlich aller ArbeiterInnen, vor den Ferien zum Essen in ein Restaurant ein, wo sie sich dann betrinken konnten.

Unter dem Firmenchef stand der stellvertretende Generaldirektor, darunter als nächster der Direktor, dann der Produktionsleiter und sein Stellvertreter, und in der Werkhalle kamen noch die Abteilungsleiter und die Gruppenleiter dazu. Die Firma hatte mehr als zehn Abteilungen, unter anderem Technik, Produktion, Einkauf und Finanzen. Verantwortlichkeiten waren klar getrennt, Arbeit genaustens nach Fachgebieten aufgeteilt. Die Produktion fand in zwei Gebäuden (A und B) mit jeweils vier Stockwerken statt. Auf jedem Stockwerk gab es eine Werkhalle mit je acht Produktionslinien, denen jeweils ein Gruppenleiter und sein Assistent vorstanden. Jede halbe Stunde lief der Gruppenleiter herum und inspizierte die Linie mit ihren jeweils etwa vierzig ArbeiterInnen.

Die Firma setzte das Managementmodell 7S ein, hatte sie doch dem normalen 6S-Modell noch das Einsparen (von Material) hinzugefügt.1 Laut Bei schnitt sie damit in puncto Management im Vergleich zu vielen anderen chinesischen Unternehmen gut ab. Erstens hatten die Führungskräfte durch die klare Regelung der Verantwortlichkeiten ihre Aufgaben tatsächlich klar im Griff. Höhere Ränge durften nicht in die Belange unterer eingreifen. Darüber hinaus hatte die Produktionsabteilung einen besseren Stand als in vielen anderen chinesischen Firmen. Ihre Leute hatten Schlüsselpositionen inne und konnten sich in Auseinandersetzungen mit höheren Managern leisten, deutlich ihre Meinung kundzutun – zum Beispiel durch abruptes Beenden von Telefonanrufen. In vielen anderen chinesischen Firmen hatte die Produktionsabteilung dagegen wenig zu melden. Zweitens wurden Probleme in der Produktion zunächst untersucht, Ursachen und Verantwortung geklärt und dann Lösungsvorschläge gemacht, ohne als erstes die ArbeiterInnen zu beschuldigen. So bestrafte Bei ArbeiterInnen, die immer wieder denselben Fehler machten, erst, wenn sie aus eigenem Antrieb einen Versämnisbericht ausgefüllt und ihm zur Unterschrift vorgelegt hatten. Drittens war das Management aus der Perspektive der ArbeiterInnen relativ lax. So gab es zum Beispiel jeweils nach zwei Stunden Arbeit eine zehnminütige Pause, und morgens konnten die ArbeiterInnen zu Musik Gymnastikübungen machen, wie das in Mittelschulen üblich ist. Laut Bei sind die Bedingungen in taiwanesischen Unternehmen zwar etwas schlechter als in ausländischen Firmen oder solchen aus Hongkong, jedoch deutlich besser als in chinesischen Firmen.

Angriff auf die Löhne

Anfang Januar 2009, vor dem chinesischen Neujahrsfest, änderte sich die Lage. Erstens wurden freie Tage und Schichten nun oft verlegt und damit die Überstundenbezahlung gesenkt. Überstunden am Wochenende wurden wesentlich höher entlohnt als die an Wochentagen (10,34 Yuan pro Stunde statt 7,75 Yuan), und um den höheren Überstundensatz zu vermeiden, glich die Firmenleitung geleistete Wochenendüberstunden mit Freistunden an normalen Arbeitstagen aus. Diese Freistunden entstanden durch die schwankende Auftragslage oder eine schlechte Produktionsplanung. Im Ergebnis mussten die ArbeiterInnen nun samstags und sonntags arbeiten, erhielten dafür aber nach den neuen Vorschriften nur den normalen Lohn und keine Überstundenzuschläge. Zweitens wurden die Kontrollen intensiviert und das existierende Strafensystem weiter verschärft. Wenn jemand aus der Tagesschicht eindöste, wurde das als Vergehen notiert und mit einer Geldstrafe von 100 Yuan belegt. Aufgrund der noch zahlreicheren Überstunden schliefen viele ArbeiterInnen tagsüber ein, und ein großer Teil musste wegen der Verletzung der Vorschriften diese Geldstrafe zahlen. Das führte zu Unzufriedenheit unter den ArbeiterInnen. Drittens wurden viele Zusatzleistungen gestrichen, darunter die Lotterie, an der bis dahin alle Beschäftigten der Firma, einschließlich der ArbeiterInnen, am Ende jeden Jahres teilgenommen hatten. Sie hatten elektronische Geräte im Wert von einigen Tausenden oder gar über Zehntausend Yuan gewinnen können, mindestens jedoch den Trostpreis von 200 Yuan. Darüber hinaus war bisher eine Jahresprämie gezahlt worden, im ersten Jahr 1.000 Yuan, im zweiten 2.000, im dritten 3.000 und so weiter. Jedes Jahr war für alle 1.500 Beschäftigten auch ein gemeinsamer Ausflug organisiert worden, zum Beispiel irgendwo in der Provinz zum Rafting. Allein die Fahrt mit den vielen Reisebussen war eine grandiose Erfahrung gewesen, und die Firma hatte fast alle Kosten übernommen. In der Fabrik hatte es auch einen Ort zum Lesen und Entspannen sowie eine Tanzhalle gegeben, in der oft Geburtstagsfeiern stattgefunden hatten. An ihrem Geburtstag hatten ArbeiterInnen keine Überstunden machen müssen und trotzdem den Überstundenlohn erhalten. All das und noch einiges mehr wurde nun gestrichen.

Hinter all diesen Änderungen stand angeblich die Finanzkrise. Deren Ausbruch Ende 2008 wirkte sich zwar kaum auf die Firma aus, hatte sie im Jahr 2009 doch nicht etwa weniger, sondern mehr Aufträge. Die Produktion brummte, und die Zahl der Überstunden stieg. Die taiwanesischen Unternehmer der Region hatten sich jedoch versammelt und beschlossen, dass alle gemeinsam die zusätzlichen Leistungen abschaffen. Die ArbeiterInnen waren natürlich unzufrieden, aber viele dachten, sie hätten keine andere Wahl, weil die Unternehmen selbst über die Zulagen entschieden. Im Grunde waren sie eine Gefälligkeit des Firmenchefs und nicht in den Arbeitsgesetzen geregelt. Welchen Einfluss hatten die ArbeiterInnen also darauf, ob die Zusatzleistungen verbessert oder abgeschafft wurden? Viele ArbeiterInnen leisteten trotzdem wortlos und passiv Widerstand – sie kündigten. Vor Januar 2009 war die Fluktuation gering gewesen, nach den Änderungen stieg sie stark an.

Der Streik am 25. Oktober

Laut Bei war deutlich zu spüren, dass alle ArbeiterInnen vor Ausbruch des Streiks unzufrieden waren. Es wagte jedoch niemand, die Initiative zu übernehmen. Genauer wusste Bei nicht, wie die ArbeiterInnen dachten und was sie fühlten, weil sie und die unteren Führungskräften in getrennten Wohnheimen lebten. Bei kannte jedoch die deutlichen Klagen der unteren Führungskräfte. Oft diskutierten sie laut im Büro neben der Werkhalle und attackierten auch höhere Managementebenen. Die Beziehungen zwischen der unteren Führungsebene – wie Gruppenleiter und ihre Assistenten – und den ArbeiterInnen waren auch nicht so konfliktgeladen wie in anderen Fabriken. Bei meint gar, „Gruppenleiter und ArbeiterInnen bildeten eine Frontlinie.“ Sie erhielten dieselben Grundlöhne und Überstundenvergütungen. Die Gruppenleiter erhielten darüber hinaus jedoch einen Stellenzuschlag von 200 Yuan, freies Essen und freie Unterkunft, einen gewissen Lebenshaltungskostenzuschlag und ab und zu einen „roten Umschlag“ mit einer zusätzlichen Prämie. Beis Betonung der Gleichstellung von Gruppenleitern und ArbeiterInnen scheint also übertrieben zu sein: Das Bruttomonatseinkommen der Gruppenleiter summierte sich auf 3.000 Yuan, das ihrer Assistenten auf 2.100 bis 2.200 Yuan. Die ArbeiterInnen kamen auf 1.500 bis 1.800 Yuan – tatsächlich ein großer Unterschied.

Was die Stimmung anging, standen sich Gruppenleiter und ArbeiterInnen jedoch tatsächlich sehr nahe. Bei erwähnt, dass Gruppenleiter im Betrieb rekrutiert, also aus der Belegschaft heraus zum Gruppenleiter oder Assistenten befördert wurden. Einige Gruppenleiter behaupteten, dass sie „den größten Beitrag leisten, und deswegen auch den höchsten Lohn der Firma bekommen sollten.“ Die Gruppenleiter verstanden sich untereinander gut. Wenn es ein Problem gab, das alle anging, setzten sie sich zusammen und diskutierten darüber. Manchmal schimpften die Gruppenleiter mit einer Arbeiterin. Die Beschimpfung beschränkte sich jedoch auf die eine Sache, und eine halbe Stunde später war es vergessen. Es kam nicht so oft vor, wie in anderen Fabriken, hatte keine Auswirkungen auf private Angelegenheiten und führte zu keinen weiteren Konflikten mit den ArbeiterInnen. Außerhalb der Arbeitszeit gingen Gruppenleiter und ArbeiterInnen oft gemeinsam essen und kamen gut miteinander aus. Bei meint, zahlreiche andere Gruppenleiter hatten sogar bessere Beziehungen zu den ArbeiterInnen als er selbst. Die Gruppenleiter und ihre Assistenten von zwei oder drei Produktionslinien in seiner Werkhalle hätten jedoch auf sein Wort gehört – was sich im Streik als vorteilhaft erweisen sollte.

So fing es an: Am Vormittag des 25. Oktober 2009, kurz nach Schichtanfang um acht Uhr, machte der Direktor seine Kontrollrunde durch die Werkhalle und entdeckte, dass eine etwa 37 Jahre alte Arbeiterin keine Schutzausrüstung trug. Er nahm ihr den Betriebsausweis ab und wies Bei an, ihren Regelverstoß aufzunehmen. Bei war mit der Bestrafung nicht einverstanden. Erstens war seiner Meinung nach die Firma für die Bereitstellung von Schutzausrüstung verantwortlich, hatte jedoch die Ausgaben für Arbeitssicherheit und Gesundheit reduziert, sodass die vorhandene Schutzausrüstung schlicht und einfach unzureichend war. Wenn eine Arbeiterin in dieser Situation keine Schutzausrüstung anlegte, war nicht sie, sondern die Firma dafür verantwortlich. Zweitens dachte Bei, dass nicht mal ein hoher Manager das Recht hatte, über seinen Kopf hinweg in seinen Arbeitsbereich einzugreifen. Vielmehr müsse er erst mit ihm – dem zuständigen Verantwortlichen – reden, um ein Problem zu lösen.

Die beiden gerieten also aneinander, und der Streit eskalierte weiter. Der Direktor zeigte auf Bei und wies ihn vor der ganzen Werkhalle mit lauter Stimme zurecht. Über den Ton des Direktors war Bei gar nicht glücklich. Er verlor sein Gesicht, wenn er so vor seinen eigenen Untergebenen zurechtgestutzt zu wurde. Der Direktor lief nun von einem Ende der Linie zum anderen und schimpfte weiter. Bei konterte: „Sie haben keinen Grund, hier so einen Stress zu machen!“ Er weigerte sich weiterhin, die Arbeiterin zu bestrafen, und bestand darauf, dass die Firmenleitung dafür verantwortlich war, wenn ArbeiterInnen keine Schutzausrüstung einsetzten. Für Bei waren Bestrafungen nur dann sinnvoll, wenn ArbeiterInnen wussten und einsahen, warum sie bestraft wurden. Kurz nach Stellenantritt kannten sich ArbeiterInnen erst mal nicht aus und müssten lernen sich zurechtfinden. Alle Beschäftigten in der Werkhalle hatten den Streit zwischen dem Direktor und Bei mitbekommen, sie sagten jedoch kein Wort und arbeiteten weiter. Die Arbeiterin, die laut Direktor bestraft werden sollte, wimmerte still vor sich hin. Später sprach Bei kurz mit ihr und sagte, dass es „nicht um Sie geht. Das ist eine Sache zwischen uns Vorgesetzten.“ Als der Direktor weiter herumschrie, brüllte Bei plötzlich dazwischen: „Aufhören!“ Er lief zu der Produktionslinien, die ihm unterstand, und schaltete sie ab. Erst jetzt hörten seine vierzig ArbeiterInnen auf zu arbeiten. Der Streik hatte begonnen.

Nun rannte Bei rüber zu den anderen Produktionslinien und rief laut: „Warum seid ihr noch am arbeiten? Stoppt die Bänder!“ Die wurden sofort abgeschaltet, und alle die Arbeit nieder, müde und erschöpft von der Schufterei und glücklich über die Gelegenheit, Pause zu machen. Alle 300 ArbeiterInnen des zweitem Stocks im Fabrikgebäude A standen nun im Streik. Als der Direktor das kapiert hatte, rannte er zurück ins Verwaltungsgebäude. Zum dem Zeitpunkt war es etwa neun Uhr. Alle Gruppenleiter und ArbeiterInnen des zweiten Stocks versammelten sich und Bei sprach zu ihnen: „Solange das Problem nicht gelöst ist, sollten wir nicht mehr arbeiten. Stellt Euch in einer Reihe auf und geht runter auf den Hof. Wenn Ihr unten seid, lauft nicht zu weit weg!“ Niemand solle Unruhe stiften: „Wenn jemand die Straße blockiert, muss er oder sie das selbst verantworten.“ Bei gab allen noch einen Hinweis: „Falls die Firma mit mir verhandeln will, mich unter Druck setzt und verlangt, dass ich alle zur Rückkehr an die Arbeitsplätze auffordere, dann dürft Ihr nicht auf mich hören.“ Danach stellten sich die ArbeiterInnen ordentlich in einer Reihe auf und gingen hinunter.

Bei rannte nun alleine in den dritten, vierten und ersten Stock von Fabrikgebäude A und rief alle auf, sich am Streik zu beteiligen: „Ihr seid erschöpft, macht eine Pause!“ Und: „Wir vom zweiten Stock streiken, ihr solltet auch was tun!“ Sie sollten sich ebenfalls auf dem Hof versammeln. Als die ArbeiterInnen in Gebäude B mitbekamen, was passierte, kamen auch sie runter und schlossen sich dem Streik an. Einige Produktionslinien wurden nicht abgeschaltet, sodass sich die Produkte dort stapelten. Nur ein kleiner Teil der ArbeiterInnen hatte noch Zweifel und kam nicht runter. Die meisten von ihnen waren dreißig bis vierzig Jahre alt, ältere ArbeiterInnen, die schon lange im Betrieb waren, einige seit sechs oder sieben Jahren. In jeder Werkhalle gab es zehn bis zwanzig von ihnen. Es waren die jungen ArbeiterInnen, die 17- und 18-Jährigen, welche die Sache voranbrachten. Viele von ihnen kamen von weit her – zum Beispiel aus den Provinzen Hunan und Henan – und waren PraktikantInnen von technischen Schulen. Bei stellte fest, dass einige PraktikantInnen von der Hubei-Management-Schule kamen und andere bereits Fachschulabschlüsse hatten. Als der Direktor später anfing, mit einem Megaphon auf die versammelten ArbeiterInnen einzureden, entschlossen sich auch die bisher oben gebliebenen, älteren ArbeiterInnen zum Runterkommen. Es wäre eh falsch, alle älteren ArbeiterInnen als rückschrittlich zu beschreiben. Einige von ihnen zeigten mehr Begeisterung als die jungen Leute. „Kaum hatten sie das Wort Streik gehört, schon
rasten sie die Treppe runter.“

Versammlung und Verhandlung

An der Streikversammlung im Hof nahmen nicht nur die unteren Führungskräfte – Gruppenleiter, deren Assistenten und so weiter – und die ProduktionsarbeiterInnen teil, sondern auch die Reinigungskräfte aus den Werkhallen. Alle waren aufgeregt und gut gelaunt. Einige unterhielten sich, andere spielten mit ihren Handys, wieder andere sagen Lieder. Dieser so plötzlich ausgebrochene Streik war eine seltene Gelegenheit für eine Pause. Sie machten sich keine Sorgen, dass ihnen was vom Lohn abgezogen werden könnte, weil sie alle bei Schichtanfang eingestempelt hatten. Die Führungskräfte bildeten eine eigene Gruppe. Sie wollten nicht irgendwo zwischen den ArbeiterInnen herumstehen, um zu verhindern, dass die Firmenleitung sie als StreikinitiatorInnen ausmacht. Der Streik dauerte bis in den Nachmittag an. Mittags gingen zwar einige Leute zum Essen, sie kehrten danach jedoch wieder zurück. Kurz nach dem Beginn des Streiks kam der
Direktor auf den Hof und rief den ArbeiterInnen mit einem Megaphon zu: „Was wollen Sie? Sagen Sie es uns doch einfach!“ Niemand beachtete ihn. Er schrie: „Was haben Sie für Anliegen? Sprechen Sie es doch mit uns!“ Wieder beachtete ihn niemand. Er ließ nicht locker und rief: „Wenn Sie gar kein Anliegen haben, kehren sie doch bitte alle an die Arbeitsplätze zurück!“ Weiterhin gab es keine Reaktion. Schließlich brüllte er: „Wer arbeiten will, hebe bitte die Hand!“ Wieder nichts. „Wer nicht arbeiten will, hebe bitte die Hand!“ Niemand kümmerte sich darum, was er sagte.

Vierzig Minuten nach Streikbeginn brauste der Firmenchef, der sich sonst selten blicken ließ, mit seinem Auto heran. Eine halbe Stunde sprach er Konferenzzimmer des Verwaltungsgebäudes mit den höheren Managern, dann kam der Personalchef heraus. Er bat die unteren Führungskräfte und gewählte ArbeitervertreterInnen zu Verhandlungen in das Verwaltungsgebäude, sodass die Probleme diskutiert und Lösungen gefunden werden konnten. Die ArbeiterInnen zeigten mit dem Finger auf diese und jenen, konnten sich aber nicht auf VertreterInnen einigen. Laut Bei war der Streik so plötzlich ausgebrochen, dass die ArbeiterInnen sich in keiner Weise mental darauf vorbereiten konnten und nun zu nervös waren, um ins Verwaltungsgebäude zu gehen und zu verhandeln. Zudem war das Verwaltungsgebäude so edel und luxuriös. Selbst die Gruppenleiter gingen dort nur selten rein, die ProduktionsarbeiterInnen waren noch nie drinnen gewesen. Es war wie eine andere Welt. Schließlich bestimmte der Personalchef ein Dutzend ältere ArbeiterInnen, die aufgrund ihres Alters Probleme gehabt hätten, eine andere Arbeitsstelle zu finden. Deswegen waren sie zurückhaltend und neigten dazu, alles klaglos hinzunehmen. Im Konferenzzimmer sprachen sie denn auch kaum.

Noch bevor der Personalchef auf den Hof gekommen war, hatte wohl eine Arbeiterin die Aufsichtsstelle der Arbeitsbehörde angerufen. Wer es genau war, blieb unklar. Vielleicht wollte auch die Firmenleitung die Arbeitsbehörde zur Vermittlung dabeihaben. ArbeiterInnen kontaktierten auch das Fernsehmagazin Zuerst vor Ort von Shenzhen TV, aber niemand kam. Auch von anderen lokalen Medien, Fernsehstationen wie Zeitungen, ließ sich niemand blicken, sodass keine Medienberichte über diesen Streik existieren. Beamte der örtlichen Polizei und der Behörde für öffentliche Sicherheit eilten dagegen herbei und sahen sich in der Fabrik um. Da ihrer Meinung nach „niemand Unruhe stiftete und der Streik geordnet abläuft“, stellten sie sich lediglich an die Fabrikeinfahrt und beobachteten die Lage. Die Vertreter der Arbeitsbehörde beteiligten sich an den Verhandlungen von Managern und ArbeitervertreterInnen im Konferenzzimmer. Dort war der Firmenchef außer sich. Mit lauter Stimme fragte er die Manager, wie es so weit hatte kommen können. Er forderte die ArbeitervertreterInnen auf, ihre Anliegen, Beschwerden und Vorschläge vorzubringen. Die schauten einander ratlos an und sagten keinen Ton. Auch als der Firmenchef seine Aufforderung mehrmals wiederholte, brachten sie lange Zeit kein Wort heraus. Nun wurde der Firmenchef unruhig. Schließlich nannten sie einige zweitrangige Forderungen: „Im Wohnheim gibt es Bettwanzen“, „die Bedingungen in den Wohnquartieren müssen verbessert werden“ und so weiter. Der Firmenchef stimmte vorbehaltlos zu: „Das wird sofort gelöst.“ Die ArbeitervertreterInnen fuhren fort: „Zum Essen wollen wir ein zusätzliches Gericht!“ Wieder sagte der Firmenchef mit lauter Stimme: „Gut! Auch das wird sofort gelöst!“ Als die ArbeiterInnen nun lange nichts mehr sagten, forderte der Firmenchef sie auf, an die Arbeitsplätze zurückzukehren. Die ArbeitervertreterInnen weigerten sich und blieben auf demselben Platz im Konferenzzimmer stehen. Der Firmenchef hoffte, die Probleme so schnell wie möglich zu lösen, weil all dies in der Hauptsaison passierte und viele Aufträge bald ausgeliefert werden mussten. Durch den Streik stand er nun stark unter Druck. Da die ArbeitervertreterInnen weiterhin nicht mit den wichtigen Punkten herausrückten, brannte der Firmenchef zunehmend vor Ungeduld. Er fragte Bei, worum es denn eigentlich ginge? Bei formulierte nun vier Forderungen.

Die erste Forderung betraf freie Zeiten und Überstunden. Die Firma dürfe freie Zeiten nicht mehr verschieben. Überstunden am Wochenende müssen mit 10,34 Yuan pro Stunde vergütet werden, und es dürfen nicht zu viele Überstunden angesetzt werden, am besten jeden Tag längstens bis 20 Uhr. Vorher hatten sie oft bis 22 oder 23 Uhr angedauert. Der Firmenchef antwortete: „Ich habe immer gefordert, dass es nach 20 Uhr keine Überstunden mehr geben darf. Was also läuft hier?!“ Die Frage stellte er absichtlich so. Zwar waren die Manager für die Situation verantwortlich, aber sie hatten immer mit dem stillschweigenden Einverständnis des Chefs rechnen können. Nun versprach der, dass es keine Verschiebungen freier Zeiten mehr geben werde. Außerdem dürfe am Wochenende nur acht Stunden lang gearbeitet werden, es sei denn, die ArbeiterInnen entschieden sich freiwillig für mehr Überstunden. Die zweite Forderung war, dass die Firma eine Hitzezulage zahlt. Bis dahin hatte es die in der Firma nicht gegeben, und die meisten Leute wussten gar nicht, dass es eine solche Zulage überhaupt gibt. Es ist unklar, wer dies während des Streiks und der Versammlung eingebracht hatte, jedenfalls sprachen nun immer mehr Leute darüber. Bei fragte den Firmenchef, ob eine Hitzezulage arbeitsrechtlich geregelt sei. Als der Firmenchef darauf nicht antwortete, riefen die Vertreter der Arbeitsbehörde, die am Rande saßen und die Diskussionen aufnahmen: „Ist sie, ist sie!“ Da schlug der Firmenchef auf den Tisch und erwiderte: „Gut! So wird ab sofort gewährt!“ Daraufhin rechneten die Firmenvertreter die Hitzezulage der Monate Mai bis Oktober aus und hielten das schriftlich fest. Die dritte Forderung lautete, dass die Firma die Bereitstellung von Arbeitsschutzausrüstung garantieren muss. Der Firmenchef tat wieder so, als würde er das ernst nehmen, und sagte laut: „Ich habe immer gesagt, dass die Sicherheit an erster Stelle steht. Also geht hier jetzt vor!?“ Die vierte Forderung betraf die Bestrafungen. Laut Bei sollten ArbeiterInnen nicht weiter willkürlich bestraft werden, sondern erst wenn sie aus eigenem Willen ein Vergehen zugeben und mit ihrer Unterschrift die Verantwortung übernehmen. Bei gab ein Beispiel: Wenn die Überstunden bis 23:30 Uhr dauerten, mussten viele Arbeiterinnen beim Wasserholen Schlange stehen, weil es auf jedem Stockwerk nur zwei Wasserboiler für etwa 150 Menschen gab. Das Baden und Waschen dauerte meist bis nach Mitternacht, zuweilen gar bis zwei Uhr morgens. Am nächsten Tag kam es deswegen oft vor, dass jemand bei der Arbeit einnickte, und das wurde als Vergehen notiert. Bei fand das ungerecht und ergänzte, dass auf der weißen Tafel zur Bekanntmachung aller Vergehen und Strafen zu viele und auf der roten Tafel zur Bekanntmachung von Belohnungen zu wenige Eintragungen gemacht würden. Das war der Arbeit nicht zuträglich, und es sollten wenigstens nicht mehr Strafen verhängt als Belohnungen ausgesprochen werden.

Der Firmenchef stimmte den von Bei vorgebrachten Forderungen zwar vorbehaltlos zu, in seinem Gesicht konnte man aber deutlich sehen, was er dachte: „Sie fordern zu viel!“ Er sprach das jedoch nicht offen aus. Mit lauter Stimme fragte er Bei: „Haben sie noch mehr Beschwerden?“ Bei erwiderte: „Die von mir genannten Forderungen spiegeln die Interessen der ArbeiterInnen wieder. Mir sind gerade nur diese eingefallen. Wenn es weitere Probleme gibt, sollen andere ArbeiterInnen sie ergänzen.“ In dem Moment nahmen die an der Seite sitzenden und die Diskussion aufnehmenden Vertreter der Arbeitsbehörde ihre Notizbücher und begannen, den Firmenchef zu befragen. Dieser brüstete sich weiterhin schamlos und sagte ihnen: „Ich habe das schon immer so angeordnet.“ Die ArbeitervertreterInnen führten noch eine weitere Beschwerde an: Sie mussten bis dahin ihre Arbeitskleidung immer selbst bezahlen und forderten, dass dies in Zukunft die Firma übernimmt. Wieder stimmte der Firmenchef vorbehaltlos zu. Dann fragte er: „Könnten Sie jetzt an ihre Arbeitsplätze zurückkehren?“ Die ArbeiterInnen rührten sich nicht. Bei bemängelte, dass es bisher nur mündliche Versprechen aber nichts Schriftliches gebe. Woher sollten sie wissen dass die Firma die Probleme tatsächlich beseitigt? Der Firmenchef beauftragte daraufhin einen Angestellten, eine entsprechende Erklärung auszudrucken und in der Fabrik aufzuhängen. Das war gegen 17 Uhr, und hier endete der Streik. Späteren Berichten zufolge erfüllte der Firmenchef seine Versprechen und machte die Maßnahmen auch nicht wieder rückgängig.

Bei kündigte zwar wenig später, hat aber weiterhin Kontakt zu einigen Leuten in jener Fabrik. So betreiben die von ihm erwähnten KollegInnen und andere ArbeiterInnen einige Chat-Gruppen und eine Chat-Webseite des chinesischen Anbieters QQ. Nach dem Streik kam es noch zu einer anderen Veränderung: Jener arrogante und herrschsüchtige Direktor kündigte bald darauf. Er hatte sein Gesicht verloren und spürte, dass er sich besser nicht weiter in jener Firma herumtreiben sollte. Bei erklärt, dass die Fabrik vorher immer gut gewesen war, jener Direktor nach seiner Ankunft jedoch die Produktionskosten mit allen Mitteln hatte drücken wollte, um sich beim Firmenchef beliebt zu machen. Die ArbeiterInnen waren natürlich die ersten, welche die Einschnitte zu spüren bekamen.

Am Tag, an dem der Streik endete, suchte der Firmenchef Bei alleine auf, um mit ihm zu sprechen. Er fragte Bei direkt auf den Kopf zu: „Was meinen Sie, welchen Schaden sie der Firma mit ihrem Verhalten zugefügt haben?“ Bei antwortete ihm: „Erstens geht der heutige Streik vor allem auf Probleme des Managements zurück. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Zweitens sind die ArbeiterInnen insgesamt unzufrieden. Der heutige Vorfall hatte eigentlich geringe Bedeutung, eskalierte jedoch aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit. Ich habe die Ereignisse nicht alleine herbeigeführt. Drittens trage ich sehr wohl einen Teil der Verantwortung für den heutigen Streik. Obwohl ich zu den unteren Führungskräften gehöre, habe ich beim Ausbruch des Streiks mitgewirkt. Für Sie hat das allerdings auch Vorteile. Der Streik hat Ihnen deutlich gemacht, dass es Probleme gibt, und wird zu einer Verbesserung der Bedingungen im Unternehmen führen. Die
Stellengesuche, die Sie aushängen, werden mehr Leute anziehen. Wenn die Firma sich verbessert, werden Sie sich auch besser fühlen.“ Auf die Frage, ob er auch selbst vom Streik profitiert habe, erwiderte Bei, dass sich daran noch besser zeigen ließe, dass er den Streik nicht aufgrund persönlicher Interessen angeführt habe. Vielmehr sei es in erster Linie um die Firmeninteressen gegangen, und das habe zum Schutz der eigenen Interessen beigetragen. Nachdem er sich Beis vehemente Rede angehört hatte, schwieg der Firmenchef einen Moment lang und sagte dann: „Schreiben Sie trotzdem eine Selbstkritik.“ Bei hielt den Firmenchef für einen der Guten, weil andere Chefs gar nicht zugehört und ihn direkt hinausgeworfen hätten.

Während der Firmenchef mit ihm sprach, erwähnte Bei, dass er kündigen wolle. Der Firmenchef fragte ihn: „Wie bitte? So wollen weiterhin kündigen? Wie wollen sie das, was sie alles gemacht haben, wiedergutmachen?“ Bei denkt, dass der Firmenchef ihn aber nicht nur auf die Verantwortung aufmerksam machen wollte, der er sich nicht entziehen sollte, sondern sich auch an seine Wertschätzung für ihn erinnerte. Als Techniker hatte Bei vorher eine höhere Position innegehabt und für den Firmenchef einige Produkte entworfen und getestet. Bei hatte schon früher dran gedacht, den Job zu kündigen, aber alle Kündigungsgesuche waren abgelehnt worden. Seine Streikbeteiligung hatte jedoch nichts damit zu tun. Die Kündigung ging eher auf seine geringen Aufstiegschancen zurück. Bei dachte, in einer großen Firma gibt es zu viel Konkurrenz, und mit der Zeit ist es immer schwerer aufzusteigen. In einer kleinen Firma arbeiten nur wenige, und die Konkurrenz ist geringer, sodass man leicht aufsteigen kann. Außerdem wird es eh langweilig, wenn man zu lange in einer Firma bleibt, und Bei wollte die Umgebung wechseln. Mehr ist zu seiner persönlichen Motivation nicht zu sagen. Er wurde nicht von außen beeinflusst und hatte den Streik auch vorher nicht geplant. Eine gewisse Rolle spielte die Wut, die er empfand, als er mit dem höheren Manager stritt. Am 27. Oktober, zwei Tage nach dem Streik, nahm Bei den halben Oktoberlohn in Empfang und verließ die Firma. Da alle wussten, dass er seine Kündigung schon vorher eingereicht hatte, wunderte sich niemand, als er nun ging. Er hat es auch nicht bereut, im Gegenteil.

Nach dem Streik waren einige LinienarbeiterInnen glücklich und sagten: „So was sollten wir öfter machen!“ Bei erwiderte ihnen: „Wie schlau von euch! Wenn ihr jeden Tag streiken wollt, warum seid ihr dann überhaupt unterwegs zum Arbeiten? Da wäre es doch besser, gleich die Sachen zu packen und in die Heimat zurückzukehren.“ Der Streik hatte die Einstellung der ArbeiterInnen verändert. Vorher wollten zwar viele ArbeiterInnen Verbesserungen fordern, aber sie sahen alle möglichen Hindernisse und machten in der Regel nichts. Bei fragte einen Arbeiter: „Hast du vorher nicht immer gesagt, dass dies nicht möglich sei und das auch nicht funktioniere? Wieso soll das jetzt alles möglich sein?“ Der Arbeiter erklärte: „Weil wir jetzt viele sind!“ Bei fasst die Erkenntnisse so zusammen: Erstens hat ein Streik deutlich mehr Wirkung als eine Schlichtung oder ein Arbeitsgerichtsverfahren. Wenn man die Arbeit niederlegt und niemand zur Schicht geht, wird der Chef nervös und kümmert sich schnell um die Probleme. Streiks haben also eine größere Wirkung und führen zu besseren Ergebnissen. Schlichtungen können mehrere Monate lang dauern und führen schwerlich zu einer Lösung der Probleme. Zweitens, will man einen gemeinsamen Kampf organisieren, muss man sich zuerst das Wohlwollen aller sichern, die sich in einer ähnlich schlechten Lage befinden und genauso unzufrieden sind. Auf dieser Grundlage können viele Leute mobilisiert werden, selbst wenn anfangs nur wenige KollegInnen in Aktion treten sollten. Zum Beispiel sind zwanzig oder fünfzig Leute in der Lage, mehr als hundert zum Kämpfen zu bewegen. Der Firmenchef spielte immer den Gutmenschen und sprach gerne vom Schutz der ArbeiterInnen, wenn er seine Manager zurechtwies. Auch während des Streiks am 25. Oktober war das so. Viele ArbeiterInnen ware froh und stolz darüber und einige betrachteten den Chef gar als Heiligen. Bei denkt kurz nach und sagt: „Das ist meine eigene schiefe Metapher, aber sie ist wirklich nicht übertrieben.“ Jedenfalls waren die ArbeiterInnen ein paar Tage lang froh und wachten erst wieder auf, als sie kapierten, dass der Firmenchef das eine sagte, aber das andere tat, und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war.

Streik in einer benachbarten Fabrik

Den ArbeiterInnen einer benachbarten Fabrik diente die Arbeitsniederlegung in Beis Firma als Vorbild. Nur zwei Tage danach brach dort ein Streik aus. Die Fabrik gehörte einem Unternehmen aus Hongkong. Die etwa 500 Beschäftigten produzierten Hochfrequenz-Transformatoren, die unter anderem für Adapter und Platinen gebraucht werden. Die Produktionsgebäude lagen ganz in der Nähe von Beis Fabrik. Verwaltungsangestellte und Führungskräfte aus der Produktion sprachen oft miteinander und tauschten gar Material aus. Arbeiterinnen beider Fabriken teilten ihr Frühstück mit Arbeitern der jeweils anderen Fabrik. Infolgedessen verbreiteten sich Neuigkeiten aus beiden Fabriken rasant. Die ArbeiterInnen der benachbarten Fabrik bekamen also nach und nach vom ersten Streik mit, was viele Diskussionen auslöste. Die Löhne in der benachbarten Fabrik waren weit niedriger, und allein der Unterschied bei der Überstundenbezahlung am Wochenende betrug sieben bis neun Yuan pro Stunde. Bald zirkulierte unter den ArbeiterInnen die Ankündigung, dass sie am 27. Oktober streiken würden.

Am vorgesehenen Streiktag lud der Fabrikchef ohne weitere Ankündigung die 500 Beschäftigten in die Fabrikkantine ein und ließ eine Wagenladung Red Bull-Limonade verteilen – eine Dose pro Person. Er setzte sich vorne hin und sagte: „In der Tat hatte ich schon länger vor, Ihre Löhne zu erhöhen!“ Danach versprach er noch die Erhöhung der Überstundenvergütung und andere Verbesserungen. Beis sagt dazu, dass sie in seiner Fabrik einen Tag lang eine Menge Stress gehabt hatten, während die ArbeiterInnen der benachbarten Fabrik in weniger als zwei Stunden ihre Ziele erreicht hatten, ohne einen Ton von sich zu geben, Beschwerden vorzubringen oder Forderungen zu stellen. Die ArbeiterInnen machten sich damals darüber lustig und meinten, nach dem Satz: „In der Tat hatte ich schon länger vor, Ihre Löhne zu erhöhen“ stand noch ein weiterer, ungesagter Nebensatz: „… nur dass Sie bisher nicht in den Streik getreten sind.“ Oder anders gesagt: Wenn sie früher in den Streik getreten wären, hätte der Firmenchef schon früher die Löhne erhöht.

Eine anderes Massenereignis

Nach seiner Kündigung arbeitete Bei ein halbes Jahr lang in einem der zahlreichen industrialisierten Bezirke der Stadt Shenzhen als Hilfspolizist der Verkehrspolizei. In der Zeit war er wieder an einem Massenereignis beteiligt, nur dieses Mal als falscher Bereitschaftspolizist in einem Abschreckungseinsatz zur Sicherung der Stabilität. Im Dezember 2009 war in Shenzhen eine Spedition bankrott gegangen. Sie hatte hunderten Kunden Geld vorenthalten, das sie bei der Auslieferung ihrer Waren eingenommen hatte. Diese Kunden – in der Mehrzahl Betreiber von Verkaufsständen in einem nahegelegenen Einkaufszentrum für Computer und Elektronik – kamen nun in die Spedition und verlangten ihr Geld, wurden aber rüde zurückgewiesen. Die kleinen Geschäftsleute waren erbost. An ihrer anschließenden Demonstration nahmen dann auch viele ArbeiterInnen aus der Eilzustellung der Spedition teil, die auf die Auszahlung ihrer Löhne warteten. Medienberichten zufolge hatte die Speditionsfirma in Shenzhen insgesamt mehr als 1.000 Beschäftigte, und die Lohnrückstände beliefen sich auf 4,86 Millionen Yuan.

Am Nachmittag des 21. Januar 2010 umringten die ArbeiterInnen aus der Eilzustellung einige ihrer höheren Manager und brüllten mit Megaphonen auf sie ein, als diese bereits von Polizisten geschützt in einem Polizeifahrzeug saßen. Sie riefen wütend: „Gebt uns unser Geld!“ Die Menge der Schaulustigen war so groß, dass der Verkehr für Stunden blockiert war. Dann fand die Polizei einen Weg, die Situation zu entschärfen. Sie half auch bei der Registrierung der Kunden, die ihre Schulden einforderten, und versprach, sich weiter um die Lösung des Problems zu kümmern. Daraufhin löste sich die Menge auf. Ein paar Tage später sagte die Stadtregierung von Shenzhen zu, der Speditionsfirma Geld vorzustrecken, damit diese ihren Beschäftigten die Löhne auszahlen kann.

Bei zufolge waren auf der Demonstration mehr als 1.000 Leute. Die Behörden schickten Polizeikräfte dorthin, damit sie die Ordnung aufrechterhalten. Unbedarfte Beobachter der Polizeieinheiten mögen diese als abschreckend empfunden haben, wenn man jedoch die Interna kennt, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Diese sogenannten Polizeikräfte waren in Wirklichkeit komplex zusammengesetzt, aus Ordnungskräften der Abteilung für öffentliche Sicherheit, Personal der Arbeitsbehörde, Verkehrspolizisten, Leuten vom Ordnungsamt, Streifenpolizisten, Wachleuten, Vertretern von Nachbarschafts- und Bezirkskomitees und sogar Hilfspolizisten der Verkehrspolizei wie Bei. Viele von ihnen – auch das befristet angestellte Hilfspersonal wie Bei – trugen das Abzeichen der Spezialeinheiten der Bereitschaftspolizei an der Brust und Uniformen mit Sternen auf der Schulter. Sie mussten alle so tun, als ob sie wirklich in Reih und Glied marschieren und mit anderen Polizeikräften geordnet vorgehen könnten, und spielten sich dabei mächtig auf. Laut Bei beruht die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung derzeit in großem Maße auf der Beschäftigung externen Sicherheitspersonals. Manche der vormaligen Dörfer verfügen nur über vier Polizisten: einen Polizeikommandanten, seinen Stellvertreter und zwei Polizeibeamte. Dabei sind die Dörfer Shenzhens bereits zu städtischen Bezirken mit einer hohen Wirtschaftsdichte geworden, umgeben von anderen sogenannten Dörfern mit großen Industriegebieten und weiteren urbanen Zonen. Die Polizeiarbeit liegt vor allem in der Hand einiger Dutzend externer Sicherheitsleute. Bei verrät uns ein Geheimnis: Wenn man genau hinschaute, konnte man sehen, dass die vermeintlichen Schulterstücke der falschen Polizisten nur aufgedruckt waren. Echte Polizisten haben richtige Schulterstücke, die an der Uniform festgemacht werden, und tragen Mützen mit Sternen. Daran kann man sie erkennen.

Als Bei als Hilfspolizist bei der Verkehrspolizei anfing, musste er zunächst 250 Yuan als Kaution zahlen. Der Lohn war anfangs ganz passabel. Inklusive Überstunden kam er monatlich auf 2.100 Yuan plus Unterkunft und Verpflegung. Seine Arbeit bestand darin, auf den Straßen zu patrouillieren, und die Kontrollen waren lax. Manche suchten sich gleich am Beginn der Patrouille einen Platz zum Schlafen. Solange man bis zum Ende der Schicht blieb, war alles okay. Später sank der Lohn jedoch drastisch, weil die Überstunden gestrichen wurden und man täglich nur noch acht Stunden arbeitete. Plötzlich verdienten sie nur noch 1.200 Yuan im Monat. Hilfskräfte wie Bei, die sich als ArbeiterInnen verstanden, waren natürlich unzufrieden. Während der Demonstration sagte ihr Truppenführer: „Wenn es wirklich zu Auseinandersetzungen kommt, hauen wir sofort ab!“ So standen sie dort in einer Reihe mit den anderen Polizisten und dachten voller Schadenfreude: „So ist es gut. Die Massendemonstration sollte noch größer werden. Je größer, desto besser!“ Von morgens bis um 15 Uhr, ihrem Schichtende, standen sie dort. Dann machten sie sich sofort von dannen.

So ging’s weiter

Im April 2010 zog Bei dann die Industriezone eines anderen Bezirks um und fing wieder in einer Fabrik an zu arbeiten. Innerhalb von nur zehn Tagen wechselte er fünf oder sechs Mal die Arbeitsstelle. In manchen Fabriken arbeitete er zwei oder drei Tage, andere verließ er bereits nach einem halben Tag. Für ihn war eine schäbiger als die andere. Mittlerweile hat er in einer Elektronikfabrik mit nur 200 bis 300 Beschäftigten Fuß gefasst und testet dort Materialien in der Qualitätskontrolle. Leider ist der Lohn nicht so gut wie in der taiwanesischen Fabrik, in der er den Streik anführte. Trotzdem bedauert er nichts. Nun hat er vor allem seine Zukunft im Blick. Die Firma will expandieren und hat vor Kurzem mehrere Zweigwerke eröffnet. Bei geht davon aus, dass er sich für die richtige Firma entschieden hat und noch länger dort bleiben sollte.

Kurzfristig erwartet er also keine großen Veränderungen. Auf lange Sicht will er jedoch in seine Heimat in Yunnan zurückkehren – trotz der Armut dort. Mithilfe staatlicher Programme werden nun Straßen repariert und andere Transportwege und der Tourismussektor ausgebaut. Es bestehen also Aussichten auf Wachstum und Entwicklung. Für die großen Bauprojekte werden ungelernte Bauarbeiter gesucht, die achtzig Yuan pro Tag verdienen. Das Preisniveau in der Heimat ist niedrig, was unternehmerische Aktivitäten erleichtert. Bei will zu Hause Gewächshäuser für grünes Blattgemüse betreiben. An den Berghängen seines Dorfes gibt es viel Brachland und in der Nähe Urwald und zahlreiche Quellen mit Wasser hoher Qualität. Die wichtigsten Nutzpflanzen der Gegend sind Reis, Tee und Tabak. Beis Familie hat fünf bis sechs Mu Land, nutzt dieses aber nicht. Bei hat schon lange nicht mehr auf dem Land gearbeitet, aber in seiner Jugend auf dem Hof gearbeitet und zum Beispiel die Schweine versorgt. Er ist sich sicher, dass er es schnell wieder lernen würde.

Bei erwähnt, dass er im Internet die Berichte über die Selbstmorde bei Foxconn gelesen hat. Innerhalb von vier Monaten waren neun ArbeiterInnen von Gebäuden in den Tod gesprungen.2 In den Medien wurde vor allem über den mentalen Druck gesprochen, aber Bei ist der Meinung, dass es alle möglichen Belastungen gibt: die harte Arbeit, die Angst, gefickt zu werden – Leute aus Guangdong und Guangxi benutzen dieses Wort für „beschimpft werden“ –, emotionale Probleme und die Befürchtung, von einem Liebespartner verlassen zu werden, und so weiter. Laut Bei sind viele von den Zeitungen aufgestellte Behauptungen falsch. Er hat damit seine eigenen Erfahrungen gemacht. Ein Journalist hatte ihn interviewt, während er als Hilfspolizist zusammen mit den Kollegen in Reih und Glied stehen und die Fragen des Journalisten gewissen Absprachen entsprechend beantworten sollte. Das erste Mal lief es nicht so gut, also mussten sie es noch mal aufführen und stellten sich wieder in einer Reihe auf. Der Journalist war erneut nicht zufrieden, sodass sie es ein drittes Mal machen mussten. So ging es mehrmals hin und her.

Bei denkt, dass seine 1980er Generation noch einige Belastungen aushält, das Hauptproblem der 1990er Geborenen jedoch ist, dass sie kaum noch dazu in der Lage ist. Die 1990er haben unrealistische Konsumansprüche und rufen ständig ihre Familien an und verlangen Geld. Bei kann nicht verstehen, wie Leute erst zum Arbeiten losziehen und dann von zu Hause Geld fordern können. Viele junge Arbeiterinnen fahren nun sogar mit Rollerskates und kleinen Rucksäcken zur Arbeit. Dort angekommen, legen sie die Rollerskates zur Seite, ziehen ihre Arbeitsschuhe an und gehen an die Produktionslinien.


Fußnoten

1 Andere Firmen nutzten gar ein 9S-Managementsystem, das noch um „Effizienz“ und „Erscheinungsform“ erweitert war. (Informationen dazu finden sich u.a. hier: http://en.wikipedia.org/wiki/McKinsey_7S_Framework, aufgerufen am 14. Januar 2014; Anm. d. Übers.)

2 Für genauere Informationen über Foxconn siehe: Pun Ngai u.a.: „iSlaves – Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken“, Wien, 2013, online unter www.gongchao.org/de/islaves-buch (Anm. d. Übers.)

 

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