Erzählung: Zheng – Unerträgliche Schmerzen

von Li Changjiang


[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]

An einem Nachmittag im August, die Sonne schien noch grell, besuchten wir Zheng. Er lag auf dem Krankenbett. Nach der zweiten Operation, die er gerade hinter sich hatte, musste er sich noch erholen. Die Firma hatte zwar jemanden vorbeigeschickt, um nach ihm zu sehen, aber sie kannten sich gar nicht und sprachen deswegen kaum miteinander. Im Verlaufe des Interviews war Zheng jedoch gesprächig und erzählte seine Foxconn-Geschichte.

Zheng stammt aus Hunan und hatte drei Jahre vorher bei Foxconn in der Unternehmensgruppe CMMSG angefangen. Seine Tante mütterlicherseits hatte in Shenzhen ein Geschäft und meinte, die Arbeit bei Foxconn sei nicht schlecht. Deswegen kam Zheng mit seinem jüngeren Bruder hierher. Nach drei Jahren war der kleine Bruder zum Leiter einer Produktionslinie geworden. Zheng meinte, er gehöre schon zur “Führungsebene”. Er selbst war weiterhin einfacher Produktionsarbeiter. Bei der Arbeit übernahm er diverse Planungs- und Entwicklungsaufgaben und wartete die Maschinen. Das hört sich nach der Arbeit eines Technikers an, aber er verdiente dennoch nicht viel. Der Grundlohn betrug etwas über 1.000 Yuan, und zusammen mit der Wohn- und Essenszulage und dergleichen kam er insgesamt auf etwas über 2.000 Yuan. Er erhielt keine Überstundenzulage. “Ich komme nicht so gut über die Runden wie mein Bruder.”

Auf seine Unfallverletzungen angesprochen, beharrte Zheng darauf, dass es nicht seine Schuld war. Als neue Maschinen kamen, wurde weder eine genaue Sicherheitsüberprüfung noch eine Bedienungsschulung durchgeführt. Er steckte eine Hand in die Maschine, um an einer Schraube zu drehen, und “dann bewegte sich ein Teil in der Maschine und zerdrückte die Hand.” Er blieb damals ganz ruhig und schrie nicht. Drei Finger waren mehrfach gebrochen und verstümmelt. Als er am Abend ins Krankenhaus gebracht wurde, waren die Führungspersonen wie Abteilungsleiter, Gruppenleiter und solche Leute da und zeigten sich betroffen. Nach diesem Vorfall überprüfte die Firma die neuen Maschinen noch einmal, überarbeitete die Sicherheitsvorschriften und schulte die ArbeiterInnen.

Sie machten das auch unter dem Druck der “zentralen Sicherheitsabteilung”. “Wenn die zentrale Sicherheitsabteilung eine Untersuchung anordnet, dann beeilen sie sich mit dem Nachholen [der Sicherheitsschulung].” “Zentrale Sicherheitsabteilung” hört sich eher wie ein staatliches Organ an und sie gehört auch nicht zum Unternehmen. Das ist eine Besonderheit von Foxconn. “Die zentrale Sicherheitsabteilung kümmert sich um alle Sicherheitsfragen. Wenn es in einer Abteilung einen Arbeitsunfall gibt, gehen sie dahin und untersuchen es. Sie regeln die Sicherheitsfragen aller Foxconn-Unternehmensgruppen. Wenn sie feststellen, dass es in einer Abteilung schwerwiegende Mängel gibt, wird die Jahresleistungsprämie dieser Abteilung gekürzt oder gar gestrichen. Die wichtigste Aufgabe der zentralen Sicherheitsabteilung ist die Arbeitssicherheit, ein weiterer Bereich ist der Werkschutz.”

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum alle Abteilungen eine solche Angst vor der zentralen Sicherheitsabteilung haben. Hier liegt auch der Grund, warum viele Arbeitsunfälle gar nicht nach oben gemeldet werden und die Kosten infolgedessen nicht bei der Unfallversicherung geltend gemacht werden können. Die Unfallhäufigkeit in einer Abteilung ist ein wichtiger Faktor für die Bewertung am Jahresende. Wenn Arbeitsunfälle nach oben gemeldet werden, kann die Prämie der Abteilungsführung deutlich geringer ausfallen. Ein Abteilungsleiter bekommt meistens 30.000 bis 40.000 Yuan Jahresprämie, ein Direktor und sein Stellvertreter mindestens zwischen 70.000 oder 80.000 Yuan. Wenn sie aufgrund von Arbeitsunfällen abgemahnt werden, bekommen sie nur noch etwa die Hälfte davon. Dies mit einkalkuliert, kommen sie dann lieber aus eigener Tasche für die Kosten der medizinischen Behandlung eines Arbeitsunfalls auf. “Wenn du dir die Fingerkuppen abschneidest, sagen sie denen im Krankenhaus, sie sollen sie wieder annähen, und dann geht es zurück nach Hause.” Man wird zu Hause versorgt und geht regelmäßig in die Klinik zur Spritze. “So brauchen sie den Unfall nicht nach oben melden.” Die Prämie der zentralen Sicherheitsabteilung hängt davon ab, wie viele durch Sicherheitsmängel verursachte Arbeitsunfälle sie pro Jahr bei ihren Kontrolle feststellen. Der Mechanismus, mit dem Foxconn das regelt, gleicht – um das noch einmal ganz deutlich zu sagen – einer Schacherei verschiedener Abteilungen um die Verletzungen der Beschäftigten mit dem Ziel, sich höhere Prämien zu sichern.

Zhengs Unfall wurde allerdings nach oben gemeldet und auch schnell als Arbeitsunfall anerkannt. Es dauerte zwei Wochen, was als äußerst kurz gilt. Die schriftliche Bestätigung des Arbeitsunfalls kam auch relativ bald. Dass das alles so schnell ging, liegt nach Zhengs Meinung vor allem daran, dass er selbst so beständig darauf gedrängt hat. “In dieser Sache musst du selbst darauf dränge, dass etwas getan wird. Ich habe jeden Tag dort angerufen.”

Das war nicht leicht, weil er Stempel und Unterschrift des Direktors brauchte und die schriftliche Bestätigung dann bei der betrieblichen Personalabteilung einreichen musste, die sie wiederum an die Personalabteilung der Unternehmensgruppe weitergab. Letztere wiederum schickte sie an die Sozialversicherung; da das Foxconn-Gelände so groß ist, liegen die unterschiedlichen Abteilungen weit auseinander, und es erfordert viel Energie, diese Formalitäten zu erledigen. Viele haben keine klare Vorstellung von den Abläufen, wissen also nicht, was zu tun ist. Deswegen dauert alles lange, und am Ende kommt nichts raus. Wenn das eintritt, müssen die Kosten für die medizinische Behandlung entweder von den Betroffenen vorgeschossen werden oder sie werden unter einem anderen, “geliehenen” Namen vom Chef beglichen und müssen später zurückgezahlt werden.

Völlig inakzeptabel ist, dass die von einem Arbeitsunfall bei Foxconn betroffenen ArbeiterInnen auch noch bestraft werden. Zheng hat Glück gehabt, weil er nur eine geringe Strafe erhalten hat. “Ich wurde nicht abgemahnt sondern verwarnt. Wenn mein Fall ‘an die große Glocke gehängt’ worden wäre, hätte das auf drei Ebenen Disziplinarmaßnahmen nach sich gezogen – für den Linienführer, für den Gruppenleiter und für den Abteilungsleiter. Der Linienführer wäre sofort ‘gefeuert’ worden, Gruppen- und Abteilungsleiter hätten Prämien eingebüßt.”

Während die Bestrafung des Gruppenleiters, des Abteilungsleiters und anderer Vorgesetzter noch verständlich ist, erscheint die Bestrafung der durch einen Arbeitsunfall verletzten ArbeiterInnen durch Verwarnung, Abmahnung usw. unmenschlich zu sein. Die Firma erklärt das mit “Verletzung der Bedienungsvorschriften”. Zheng hielt dagegen: “Mit dem Begriff ‘Verletzung der Bedienungsvorschriften’ will die Abteilung nur ihr Gesicht wahren. Würde es nicht als solches bezeichnet, zöge das selbst Strafen für die Führungsebene nach sich. Als die neuen Ausrüstungen kamen, gab es weder eine Anleitung zur Bedienungssicherheit noch eine Schulung. Das ist eine klare Verletzung der Vorschriften. Im Fall einer richtigen Untersuchung, würden viele Leute in die Sache verwickelt sein. Dann wären nicht drei Ebenen betroffen, sondern vier oder fünf. Da es in den letzten Jahren viele Selbstmorde gegeben hat, wird das relativ streng gehandhabt, und auch Generaldirektor Terry Gou achtet da besonders drauf. Deswegen gibt die Führungsebene mir einen Teil der Schuld, übernimmt aber auch ein Stück weit die Verantwortung, sodass alle die Sache gut überstehen.” Selbst wenn eine Leidtragende keine Schuld trifft, wird sie trotzdem gezwungen, sich zu opfern und einen Teil der Verantwortung auf sich zu nehmen – nur damit die Chefs ihre Prämie bekommen.

Zheng hat in seinen Jahren bei Foxconn nicht wenige Arbeitsunfälle gesehen oder davon gehört. “Bei Foxconn passieren jeden Tag Arbeitsunfälle.” Nach oben gemeldet werden aber nur wenige, aus den oben genannten Gründen. Die Chefs halten die meisten Arbeitsunfälle unter der Decke. “Vor einiger Zeit ist eine 18-jährige Arbeiterin unter heißes Wasser geraten und hat sich verbrüht. Der ganze Rücken war mindestens zu siebzig Prozent verbrüht. Für die junge Frau ging das relativ gut aus. Von oben bekam sie die beantragten etwa 8.000 Yuan, sie selbst musste nur 7.000 Yuan bezahlen. Zunächst hatte ihr unser stellvertretender Direktor 4.000 Yuan gegeben, aber als die 8.000 Yuan von oben kamen, gab sie ihm die 4.000 wieder. Sie kam selbst für alle medizinischen Kosten auf und bekam keinen Yuan Unterstützung.”

Zhengs Eltern hatten vor Kurzem beide geschäftlich in Shenzhen zu tun, und wollten danach beide wieder nach Hause zurückfahren. Als sie von seinem Unfall erfuhren, fuhr nur der Vater zurück, und die Mutter blieb in Shenzhen, um sich um ihn zu kümmern. Zheng hatte bereits viele Unfälle gesehen, die noch schlimmer waren als sein eigener, und er war deprimiert. Der Chef hatte gesagt, Zheng könnte in diesem Jahr noch mit einer Beförderung rechnen – vielleicht sogar zum Gruppenleiter – aber Zheng wollte nicht so weitermachen. “Bei Foxconn spielt sich viel im Verborgenen ab. Wenn du befördert werden willst oder es etwas leichter haben willst, brauchst du Beziehungen.” Wenn jemand gute Beziehungen zur Führungsebene hat, ist es egal, wie man seine Aufgaben erledigt, und man bekommt dennoch höhere Prämien und wird befördert. Wer sich nicht darauf versteht, Beziehungen zu pflegen, muss mehr arbeiten und bekommt weniger Geld – ein hartes und undankbares Schicksal.

Auf seine Zukunftspläne angesprochen, sagte Zheng, dass er nach der Kündigung mit seinen Eltern in den Heimatort zurückkehre und dort einem Geschäft nachgehen will. Er will nicht mehr losziehen und arbeiten, das sei zu anstrengend und hätte auch keine Perspektive; und wenn man wie er dann noch einen Arbeitsunfall hat, sei der Preis zu hoch.

Nach dem Gespräch sahen wir auf dem Weg raus aus dem Krankenhaus auf der Krankenstation all die Foxconn-ArbeiterInnen, die einen Arbeitsunfall gehabt hatten und deren Körper nun entstellt waren. Sie waren alle in der Blüte ihrer Jugend, konnten jetzt aber womöglich nicht mehr wie andere Menschen weiterleben; sie mussten nun ihr ganzes Leben mit ihrer Verkrüppelung klarkommen. Die Schmerzen, die Bestrafungen, das Hin und Her, die Hilflosigkeit, all das müsste nicht Teil ihres jungen Leben sein. Unglücklicherweise hat es sie jedoch getroffen. In der glorreichen globalen Fabrik Foxconns übernehmen sie eine tragische Rolle und zahlen einen hohen Preis.

 

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