Erzählung: Yue – Wo gehöre ich hin, wenn nicht ans Fließband?

von Zheng Yiyi


[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]

Im Jahr 2010 schockierten die mehr als zehn Selbstmorde bei Foxconn die Welt. Medien und zivile Organisationen im In- und Ausland beobachteten von da an die Arbeitsbedingungen der mehr als einer Million ArbeiterInnen durch den globalen Auftragshersteller Foxconn. Foxconn setzte nun nach und nach den großen Plan der Verlagerung nach Zentralchina um: Die Basis in Shenzhen mit ursprünglich 500.000 Beschäftigten sollte verkleinert und Teile nach Norden und Westen verlagert werden, nach Zhengzhou in der Provinz Henan, Chengdu in Sichuan, Nanning in Guangxi, nach Tianjin, Chongqing usw. Diese Fabriken wurden eine nach der anderen hochgezogen, als wenn Foxconn in seiner Zentrale in Shenzhen eine Weltkarte aufgehängt hätte und jedes Fähnchen das Territorium anzeigte, das das Kapital erobern wollte. In diesem großen Verlagerungsplan war die Stimme der ArbeiterInnen nicht zu hören, ihr Schatten nicht zu sehen.

Yue trafen wir an einem Tag Ende März auf der quadratisch über allen vier Zufahrten einer Kreuzung hängenden Fußgängerbrücke in Shenzhen-Longhua, die schon fast zu einem Wahrzeichen geworden ist. Das Foxconn-Schild mit den großen weißen Zeichen auf blauem Hintergrund war nicht weit. Wir schauten runter auf die vorbeigehenden ArbeiterInnen in ihrer weißen, blauen und rosafarbenen Arbeitskleidung. Er hatte gerade eine 10-Stunden-Nachtschicht hinter sich, genoss nun den warmen Vormittag und wollte sich mit Freunden zum Herumlaufen treffen. Yue war gerade 20 Jahre alt geworden, und obwohl er schon einen Monat lang Nachtschichten arbeitete, war er noch voller Energie. Erst seit knapp über einem Jahr in der Fabrik, war er bereits Linienführer und hatte ein Fließband mit zehn ProduktionsarbeiterInnen unter sich. Zu jener Zeit war klar, dass der aus Henan stammende Yue bald nicht mehr in Shenzhen arbeiten sollte – im Dezember davor war er informiert worden, dass seine Abteilung am 1. April nach Nanning, Provinz Guangxi, umzieht.

Angesichts der Umzugspläne hatten die Beschäftigten drei Möglichkeiten: 1. Sie konnten freiwillig mit der Fabrik umziehen; 2. sie konnten sich vorübergehend für drei Monate verpflichten; 3. sie konnten in Shenzhen bleiben und nach dem Umzug in eine andere Abteilung versetzt werden. Yue hatte sich das gut überlegt und dann entschieden, für kurze Zeit in Nanning zu arbeiten. “So habe ich weiterhin die Wahl und kann mir die Bedingungen in Guangxi anschauen. Wenn ich nicht zufrieden bin, kann ich zurückkommen und auf meine Versetzung warten.”

Nach Abwägung der Vor- und Nachteile nutzte Yue seine Stellung als Vertreter der untersten Führungsebene und ergriff die sich durch Foxconns hochfliegenden Expansionsplan bietende Gelegenheit auf eine wenig Selbstbestimmung: “Die vorübergehende Verpflichtung ist wie eine Geschäftsreise, und ich bekomme denselben Lohn wie in Shenzhen.” Yue galt schon als “Langzeitbeschäftigter”. Im Oktober des vorigen Jahres hatte er den Test bestanden und bekam nun einen Grundlohn von 2.200 Yuan, und zusammen mit den Überstundenzulagen konnte dieser so genannte “Post-90er” im Gegensatz zu den meisten gleichaltrigen ProduktionsarbeiterInnen monatlich etwa 4.000 verdienen.

Würde Yue jedoch in Zukunft in Guangxi bleiben? “Das kann ich noch nicht sagen. Es ist nicht klar, wie viel ich als Linienführer in Guangxi verdienen werde. Die Gruppenleiter und Abteilungsleiter wissen auch noch nicht, wie das Lohnsystem dort aussehen wird.” Das Lohnniveau im chinesischen Binnenland ist viel niedriger als das in der Sonderwirtschaftszone von Shenzhen. “Wenn ich monatlich 3.000 Yuan bekomme, wäre das bereits gut,” schätzte Yue.

Die wandernden “BauernarbeiterInnen”

Sie sehen den wirtschaftlichen Abstand zwischen Stadt und Land und die höheren Einkommen im Vergleich zur Heimat und ziehen deswegen zum Arbeiten von den Dörfern in die Städte. Seit Beginn der Öffnung und Reformen vor dreißig Jahren verließen Abermillionen die Heimat und gingen in die Fabriken, wo sie zu ProduktionsarbeiterInnen wurden. Aber wie Yue wissen viele ArbeiterInnen – bei Foxconn und anderswo – aufgrund von Lohnrückständen, unbezahlten Überstunden, Kürzungen der Zulagen usw. nicht, welchen Lohn sie tatsächlich für ihre Arbeitskraft erhalten werden. Sie sind auch keine “echten” ArbeiterInnen. Das Haushaltsregistrierungssystem (hukou) macht sie zu vom Land abgeschnittenen “Bauern”, sogenannten BauernarbeiterInnen (nongmingong). Da sie innerhalb des Landes zwischen Stadt und Land hin- und herziehen, werden sie auch als “WanderarbeiterInnen” bezeichnet. 150 Millionen von ihnen arbeiten in den Städten. Das Forschungszentrum für Entwicklung des chinesischen Staatsrates räumte dies auf ihrer Website ein: “Die Beschleunigung der Urbanisierung basiert hauptsächlich auf der Wanderung von Bauern in die Städte… Sie genießen aber nicht den gleichen Status und erhalten nicht die gleichen Rechte und Ansprüche wie die StadtbewohnerInnen. Mit anderen Worten, diese in die Städte ziehenden Bauern sind selbst noch nicht zu richtigen StadtbewohnerInnen geworden.” Unabhängig von ihrer Bezeichnung werden sie an die Fließbänder gebunden, haben aber nie einen der Bezeichnung angemessenen Status erhalten oder ein anständiges Leben führen können.

Yues Umzug musste erst einmal warten. Ursprünglich sollte er Ende März umziehen, aber die Fabrik in Nanning war noch nicht fertiggestellt worden. Seine “Geschäftsreise” wurde bis auf Weiteres verschoben. Die Verlagerung der Fabrik wird von Foxconn betrieben, welchen Einfluss können die Wünsche der ArbeiterInnen da schon haben?

In Shenzhen stellte Foxconn zu der Zeit niemand mehr ein – auch wenn auf den Straßen Shenzhens viele “falsche” Stellenanzeigen hingen, die sich an gutgläubige Neuankömmlinge wandten und behaupteten, mit “100 Prozent Erfolgsgarantie” einen Job bei Foxconn vermitteln zu können. Das waren offensichtlich Lügen, aber niemand machte sich die Mühe, die falschen Werbeanzeigen zu beseitigen. Am offiziellen Foxconn-Anwerbezentrum unter der Fußgängerbrücke am Südtor des Fabrikkomplexes in Shenzhen-Longhua wurden nur Leute für das “Chengdu-Projekt” eingestellt.

Das “Projekt Chengdu” bezog sich auf Foxconns Expansion nach Westen in die Provinz Sichuan: Wer seit Ende des vorigen Jahres in Shenzhen angeworben wurde, unterschrieb einen Arbeitsvertrag für Chengdu. Sie wurden ein halbes Jahr im Süden “geschult” und dann direkt zur Arbeit nach Chengdu geschickt. Zusammen mit den in der Peripherie von Sichuan angeworbenen ArbeiterInnen hatte Foxconn-Chengdu bereits 40.000 Beschäftigte.

Jia war einer der Arbeiter des Chengdu-Projekts. Er baute die heute so populären Apple iPad 2. Als wir uns an jenem Tag trafen, hatte er aber bereits gekündigt. Seine Freundin arbeitete (nicht weit von Shenzhen) in Dongguan, und er hatte natürlich nicht vor, mit der Abteilung nach Chengdu umzuziehen. “Als ich den Vertrag unterschrieb, hoffte ich, dass ich nach dem halben Jahr durchsetzen kann, in Shenzhen bleiben zu können.”

“Vorgestern informierte uns der Chef, dass wir in der nächsten Woche umziehen. Er hatte die Kündigungsformulare in der Hand und fragte, wer mitgehen wolle und wer nicht. Wer nicht mitgehen wollte, ging zur Seite und konnte gleich die Kündigung unterschreiben. Sie wollten uns weismachen, dass es draußen schwer sei, eine Arbeit zu finden. Wir sollten uns das einen Nachmittag lang überlegen und zur Informationsveranstaltung über Lohn und Gehalt gehen. Trotzdem wollten mehr als fünfzig Leute kündigen.” Jia fügte hinzu, dass einige seit langem in Shenzhen Beschäftigte “lieber sterben würden als nach Chengdu zu gehen. Jetzt bekommen sie 2.000 Yuan Grundlohn, wenn sie mitgehen lediglich 1.300 Yuan…” Wer den niedrigeren Lohn nicht akzeptieren wollte, dem blieb nur die Kündigung. Einen anderen Weg gab es nicht. Andere Langzeitbeschäftigte hofften dagegen, in die Heimat zurückkehren zu können. Sie durften der Fabrik aber nicht nach Chengdu folgen. Kurz vorher zirkulierte dies im Internet: “Foxconn-Ingenieur schickt höflichen Brief an Terry Gou mit der Bitte, mit nach Chengdu umziehen zu können.” Da sein Vorgesetzter einer Versetzung nicht zugestimmt hatte, blieb ihm nur die Kündigung. Er drückte seine Enttäuschung aus: “Ich bin verletzt und enttäuscht!” Am Ende hat doch nur das Kapital die Möglichkeit, sich wirklich frei zu bewegen.

Es liegt nicht an den ArbeiterInnen, wenn sie nicht genau über ihre Lohnhöhe Bescheid wissen. In Chengdu trafen wir ArbeiterInnen, die aus verschiedenen Ortschaften im Kreis Pi stammten und gerade erst eingestellt worden waren. Sie beschwerten sich wiederholt darüber, dass der ausgezahlte Lohn nicht mit dem in den Stellenanzeigen angegebenen übereinstimmte. Eine Anzeige in der Stadt Pitong lautete: “In der Probezeit bekommen die Beschäftigten 1.600 bis 2.000 Yuan, nach der Festanstellung dann einen Gesamtlohn von 2.200 bis 2.800 Yuan.“ Woraus sich der sogenannte „Gesamtlohn“ eigentlich zusammensetzt, das wurde aus der Stellenanzeige nicht deutlich. In Wirklichkeit musste man sehr viele Überstunden machen, um gerade mal auf 2.000 Yuan zu kommen. In der Stellenanzeige in Hongguang stand, dass monatlich eine “Mietzulage von 50 Yuan” gezahlt wird. Da stand aber nicht, dass den in Wohnheimen lebenden ArbeiterInnen 110 Yuan Wohnheimmiete vom Lohn abgezogen werden. Die ArbeiterInnen beklagten sich, dass sie hereingelegt wurden.

Obwohl bereits Zehntausende in den beiden Fabrikkomplexen Nord und Süd in Chengdu untergebracht worden waren, wurde dort weiter gebaut. Die späteren Fabrikgebäude waren noch Baustellen, auf dem Gelände waren aber einige Produktionslinien bereits in Betrieb genommen worden. Jeden Tag mussten die ArbeiterInnen ohne Bauhelme über die von Löchern übersäten Wege zu den Fabrikhallen laufen – an diesem staubigen Ort wurde das den Menschen so hell und sauber erscheinende iPad produziert. Die beim Poliervorgang entstehenden Aluminiumpartikel hingen den ArbeiterInnen überall im Gesicht und am Körper. Die im Bau befindlichen Fabriken verfügten nicht über genügend Toiletten. Wenn es regnete, mussten die ArbeiterInnen dem Niederschlag trotzend hinaus zu den mobilen Toiletten. Auch der Arbeitsanfang und das Arbeitsende gerieten für die ArbeiterInnen in Chengdu zu einer unerwarteten Herausforderung. Einige Wohnheime lagen mehr als zwanzig Minuten Busfahrt von den Fabrikgebäuden entfernt. Foxconn mietete jeden Tag Hunderte Reisebusse, um die ArbeiterInnen von den Wohnheimen zur Arbeit und zurück zu bringen. Die Firma brauchte so keine Busse kaufen und sparte die Fahrerlöhne und andere Kosten eines Transportservice. Die ArbeiterInnen waren gestresst, weil sie durch Überstunden die Busse verpassen konnten. “Ein Taxi zu nehmen, kosten schnell zig Yuan!” Eine Fabrik auf dem Gebiet verlassener Dörfer und am Arsch der Welt. Das entspricht nicht den Vorstellungen, die junge WanderarbeiterInnen haben, bevor sie zur Arbeit in die Stadt ziehen.

“Mit Volldampf voraus” zu unerreichbaren Zielen

Die überwältigende Mehrheit der Foxconn-ArbeiterInnen ist in den achtziger oder neunziger Jahren geboren. Sie werden als “neue Generation der BauernarbeiterInnen” bezeichnet. Nachdem sich im letzten Jahr mehr als zehn 17- bis 28-jährige Foxconn-ArbeiterInnen das Leben genommen hatten, veröffentlichte der All-Chinesischen Gewerkschaftsbund (ACFTU) einen Bericht, in dem u.a. stand: “89,4 Prozent der neuen Generation von BauernarbeiterInnen fehlen die Fähigkeiten, um Landwirtschaft zu betreiben,” und sie sehen sich eher als StadtbewohnerInnen. Die erste Generation von BauernarbeiterInnen war zum Arbeiten in die Stadt gekommen, weil sie für die Familie im Dorf genug Geld verdienen und deren Lebensbedingungen verbessern wollte. Sie wollte später wieder ins Dorf zurückkehren. Das Verlangen, langfristig in der Stadt zu bleiben, ist unter der neuen Generation de BauernarbeiterInnen stärker ausgeprägt. Mehr noch: “59,9 Prozent wollen in Zukunft ‘in der Stadt, in der sie arbeiten, bleiben und eine Wohnung kaufen’.” Abgesehen von ihrem hukou-Status bleiben die Wohnungspreise auf einem so hohen Niveau, dass Leute mit städtischem hukou sie sich nur schwerlich leisten können, ganz zu schweigen von den BauernarbeiterInnen mit ihrem um den Mindestlohn schwankenden Einkommen.

Im letzten Jahr startete Foxconn den Plan “Mit Volldampf voraus”. Beschäftigte, die seit fünf oder mehr Jahren bei Foxconn gearbeitet hatten, konnten 300.000 bis 400.000 Yuan leihen, um in ihrer Heimat, Kleinstädten in Sichuan, “Firmen zu gründen”, d.h. Geschäfte für den Verkauf elektrischer Konsumartikel. Auf den ersten Blick schien es dabei um die Zukunft der Beschäftigten zu gehen, aber der Plan schien unrealistisch. “Überlege mal, wenn das Geschäft Flachbildfernseher verkaufen will, muss man im Verkaufsraum Geräte mehrerer Hersteller ausstellen, oder man muss mehrere Computer dort hinstellen, und man braucht drei oder vier Schaufenster. So ist das in meiner Heimatstadt. Die Monatsmieten sind auch gestiegen. Wie soll man diese ganzen Kosten tragen?” Yue stand auf der Fußgängerbrücke und blickte zum ersten “Mit Volldampf voraus”-Geschäft am Südtor. In Wirklichkeit war dies nur eine Strategie Foxconns zur Erweiterung des Marktzugangs.

Die Regierung geht davon aus, dass sich im Zeitraum des 12. Fünfjahresplans (2011-15) jedes Jahr vier Millionen BauernarbeiterInnen der neuen Generation in der Stadt niederlassen werden. Eine schöne Aussicht, aber in dieser kapitalistischen Gesellschaft mit ihren harten Ausbeutungsbedingungen ist schwer zu erkennen, wie sie ihre Träume verwirklichen sollen.

 

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