Erzählung: Yu – Enttäuschte Hoffnungen

von Yu und Li Changjiang


[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]

Ende November 2010 trafen wir Yu. Er war alleine auf der Straße am Osttor des Foxconn-Komplexes in Shenzhen unterwegs. Es war zwar Montag, aber Yu ging nicht wie sonst zur Arbeit. Er hatte sich frei genommen und aufgemacht, eine neue Arbeit zu suchen.

Es war die Zeit des großen Traras um die Lohnerhöhungen bei Foxconn. Von außen betrachtet bot Foxconn bereits relativ hohe Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Jeden Tag bewarben sich unzählig viele Menschen. Yu dagegen wollte die Firma verlassen. Wir waren neugierig und unterhielten uns mit ihm auf dem Platz vor Foxconns Osttor.

PraktikantInnen als ProduktionsarbeiterInnen

Im Juli kündigte Yus Fachschule an, dass die Sommerferien für ein Praktikum bei Foxconn genutzt werden können. Er kam dann mit insgesamt 96 MitschülerInnen her. Sie wurden auf verschiedene Abteilungen aufgeteilt. Yu selbst war in einer Gruppe mit einem Dutzend MitschülerInnen. Der Lehrer, der sie hierher begleitet hatte, fuhr dann zurück und tauchte danach auch nicht wieder auf. Seitdem rief er nur ein Mal an: “Er hat gefragt, wie es mit der Arbeit läuft, wie das Essen ist, wie die Unterkunft ist, solche Sachen. Er hat nur einen von uns angerufen.”

Danach meldete er sich nicht mehr, und Yu und seine MitschülerInnen hatten keinen Kontakt mehr zur Schule. Anfangs hieß das noch Praktikum, aber später stellte sich raus, dass sie lediglich dem Namen nach PraktikantInnen waren. Sie waren auch keine SchülerInnen mehr, da sie die Schule verlassen hatten und nun bei Foxconn waren. Nichts unterschied sie noch von den zahllosen dagongzai (WanderarbeiterInnen).1 Yu arbeitete in der Abteilung, die XBox 360-Spielkonsolen für Microsoft herstellte. Die Abteilung gehört zur CMMSG-Unternehmensgruppe. Yu wurde jedoch nicht sofort in diese Abteilung geschickt, sondern zunächst einen halben Monat lang zur
“Führungsreserve” ausgebildet. “Nachher wollten sie uns aber nicht.” Yu und seine MitschülerInnen wurden dann der CMMSG-Unternehmensgruppe als einfache ProduktionsarbeiterInnen zugewiesen. Da die unterschiedlichen Unternehmensgruppen unabhängig voneinander sind, bedeutete die Versetzung, dass sie erneut für einen halben Monat angelernt wurden. Während der Anlernzeit gab es nur den Grundlohn. Statt der 1.200 Yuan, den Festangestellte bekommen, waren das 960 Yuan. Die nach Yu gekommenen SchülerInnen machten dieselbe Erfahrung: Sie waren erst “Führungsreserve” und wurden dann zu einfachen ProduktionsarbeiterInnen.

Yus Arbeit bestand nun darin, Klebstoff auf die Hauptplatinen der Spielkonsolen aufzutragen und dann diverse Bauteile draufzustecken. Diese Arbeiten werden mit Maschinen ausgeführt, und Yus Aufgabe lag vor allem darin, die Maschinen zu überwachen. Neben Yu waren nur wenige ArbeiterInnen in der Produktionshalle. Etwa ein Dutzend Leute arbeiteten an sechzehn Maschinen. Manche bedienten nur eine Maschine, andere kontrollierten drei, das kam ganz auf ihre Qualifikation an. Allerdings bekamen alle den gleichen Lohn. Die tägliche Produktionsvorgabe lag bei 1.500 Stück, wurde aber ständig geändert. “Wenn wir heute 1.500 Stück schafften, wollten sie morgen 1.600 Stück. Und wenn wir die schafften, wollten sie übermorgen 1.700. Es wird also ständig mehr verlangt.” Die Produktionsvorgabe wurde in der Tat immer weiter erhöht und nie gemindert. Sie musste jeden Tag geschafft werden, ansonsten wurde das Arbeitsende verschoben und es mussten unbezahlte Überstunden geleistet werden. War die Arbeit auch am nächsten Tag nicht rechtzeitig geschafft, wurde man runtergemacht und musste Selbstkritik üben.

Da er das erste Mal von zu Hause weg war, wusste Yu nicht viel über andere Fabriken, aber im Vergleich zur Schule war es eine völlig andere Welt. Bei Foxconn musste er zehn Stunden täglich an der Maschine stehen und durfte sich nicht hinsetzen. “Die Firma stellt sicher keine Bänke auf, weil die Angst haben, dass wir dann darauf schlafen!”

Die Arbeit an den Maschinen ist auch gefährlich. Yu sagte, dass sich vor nicht allzu langer Zeit ein Mitschüler in seiner Produktionshalle die Hand verletzte. Glücklicherweise war es aber nicht so schlimm. Etwas Salbe und ein Verband, und schon ging es ihm besser. Anfangs bekamen sie eine einfache Schulung in Arbeitssicherheit, aber danach gab es keine weiteren Einweisungen. “Die Firma hat zwar Schulungen organisiert, aber wir durften gewöhnlich nicht teilnehmen, weil wir am Band bleiben und die Produktionsvorgaben erfüllen mussten. Die Schulungsbögen wurden einfach so unterschrieben, und damit galt das als erledigt. Das Management prüfte auch nicht nach, ob du tatsächlich teilgenommen hattest oder nicht.”

Früher oder später gehen alle

Yu schätzte, dass seine Abteilung Ende des Jahres nach Wuhan verlegt werden wird. Dort ist der Grundlohn mit etwas mehr als 900 Yuan noch viel niedriger als die 1.200 Yuan, die Festangestellte in Shenzhen verdienten. Nach Angaben der Firma ist der Umzug (nach Wuhan) freiwillig. Wer nicht mit nach Wuhan wollte, könnte auch in eine andere Abteilung wechseln. Sollte diese Abteilung den Wechsel aber ablehnen, galt das als Selbstkündigung. Ein Teil der Facharbeiter in seiner Abteilung hatte den Vertrag für Wuhan schon unterschrieben.

Auf welche Weise ihr Lohn angepasst worden war, wusste Yu nicht, da er im Unterschied zu ihnen einfacher Produktionsarbeiter und kein Facharbeiter war. Der Umzug nach Wuhan war jedenfalls nicht der Grund für Yus Entscheidung, eine andere Arbeit zu suchen. Er hatte ohnehin beschlossen, aufzuhören. “Einfacher Produktionsarbeiter zu sein macht keinen Sinn.” Er wollte eine technische Ausbildung machen und früher oder später gehen.

Eigentlich hatte Yu Computertechnik gelernt. Der größte Teil der 96 MitschülerInnen, mit denen er in die Fabrik gekommen war, hatte die Firma schon verlassen. Lediglich zwanzig bis dreißig Leute arbeiteten noch dort, in seiner Abteilung waren es fünf oder sechs, an seinem Band nur noch zwei. Einige derer, die Foxconn bereits verlassen hatten, waren zurück auf die Berufsschule gegangen, andere hatten sich eine neue Arbeit gesucht, und wieder andere waren direkt nach Hause zurückgekehrt. Für Yu war klar, dass sich diejenigen, die sich eine neue Arbeit gesucht hatten, kaum verbessern konnten. “Die sind fast alle immer noch einfache Produktionsarbeiter.”

Nun waren nicht mehr viele MitschülerInnen übrig geblieben. Yu sagte, dass jetzt normalerweise alle zusammenkamen, um gemeinsam zu essen und sich irgendwie die Zeit zu vertreiben, sprich in der Nähe der Foxconn-Fabrik herumzubummeln. Sie hatten ja kaum Zeit. Am Wochenende hatten sie nur einen freien Tag, und da wollten sie sich erholen. Irgendwo hinzufahren war ihnen einfach zu weit, die Hin- und Rückfahrt zu anstrengend. Vor allem hatten sie kein Geld dafür. “Um einfach irgendwo hinzufahren, braucht man mehr als 100 Yuan. Und das nur, wenn man sich zurückhält und nichts kauft.” Yus monatliches Einkommen lag bei insgesamt 2.000 Yuan. Seine alltäglichen Ausgaben beliefen sich auf insgesamt 1.000 Yuan, und zudem legte er auch etwas zurück, um Arbeit zu suchen und eine technische Ausbildung zu machen. Daher blieb nichts mehr übrig, um es nach Hause zu schicken. Yu senkte den Kopf und erzählte von seinen jüngeren Bruder, der die Grundschule besuchte. Dafür mussten die Eltern mit ihren Einkünften aus der Landwirtschaft aufkommen. Yu hätte gern einen Teil übernommen, aber dazu war er beim besten Willen nicht in der Lage.

Besser eine Fortbildung als zurück auf die Berufsschule

Bei der Arbeit musste Yu zehn Stunden lang stehen und war danach vollkommen erschöpft. Am Anfang war es am schlimmsten. Die meisten ertrugen es nicht. Yu meinte, dass es jetzt ging, weil er sich daran gewöhnt hatte. Erschöpft war er aber weiterhin. “Als ich noch auf der Schule war, dachte ich, Arbeitengehen macht sicher viel Spaß, also zog ich los.” Während der Monate in der Knochenmühle erfuhr Yu am eigenen Leib, wie anstrengend die Arbeit ist. “Es macht überhaupt keinen Spaß.” Er wollte aber trotzdem nicht zurück. Das Jahr auf der Berufsschule hatte ihn 10.000 Yuan an Schulgebühren gekostet. Als er hierher kam, hieß es, das sei ein Praktikum, aber tatsächlich arbeitete er als Produktionsarbeiter. Was er vorher auf der Schule gelernt hatte, konnte er hier überhaupt nicht anwenden. “Wenn ich wieder auf die Schule ginge, würde ich eh nichts lernen. Es ist besser, wenn ich hier draußen eine Fortbildung mache.” Für ihn sind die 10.000 Yuan, die er für die Berufsschule zahlte, aus dem Fenster geschmissenes Geld. Er hatte nicht mal ein Abschlusszeugnis. Wenn er eins bekommen wollte, müsste er dafür bezahlen. Erst wollte er versuchen, hier eine technische Ausbildung zu machen. Nur falls das nicht klappte, wollte er zurück auf die Berufsschule gehen und seinen Abschluss machen.

Yu hatte schon versucht, eine andere Arbeit zu finden, aber das war ganz und gar nicht komisch. Er hatte im Internet gesucht und war aufgefordert worden, für eine medizinische Untersuchung und anderes mehr Geld zu überweisen. Nachdem der das Geld überwiesen hatte, könne er jedoch niemanden mehr erreichen.

Die Nachmittagssonne schien matt herunter. Yu ging es offensichtlich nicht gut. Nach einigen Monaten Praktikum bei Foxconn hatte dieser schüchterne junge Mann seinen Platz noch immer nicht gefunden. Die Passage von der Führungsreserve zum einfachen Produktionsarbeiter und die strapaziöse Arbeit, die mit seinem Ausbildungsfach nichts zu tun hatte, ließen ihn spüren, wie groß der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist. Doppelt enttäuscht, hatte er entschieden, wegzugehen, von Foxconn und von der Berufsschule. Er wusste aber nicht, was als nächstes kommt. Dieser 16-Jährige hatte noch einen langen und schweren Weg vor sich.


Fußnote

1 Siehe die Erklärung von dagongzai und dagongmei (arbeitende Söhne/Schwestern) im Beitrag Arbeitende Schwestern der wildcat-Beilage “Unruhen in China” (2007). (Anm. d. Ü.)

 

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