Erzählung: Qing – Vorübergehender Aufenthaltsort


[Erzählung aus der chinesischen Ausgabe von Pun Ngai/Li Wanwei: dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin 2008; hier auch als PDF]

Die neunzehnjährige Qing (晴) aus der Provinz Jiangxi ist die erste dagongmei, die mir erzählt, dass sie gerne aufs Land zurückkehren will, um sich dort selbst zu verwirklichen. Als sie aus ihrem Heimatort in die weite Welt zog, hatte sie noch Träume und Erwartungen. Aber nach zwei Jahren Arbeit in der Knochenmühle von Guangdong spürt sie, dass sie sich nicht in der Stadt niederlassen kann und dass sie dort nicht hingehört.

Qing hat nur einen jüngeren Bruder. Als er klein war, lebte er bei der Großmutter mütterlicherseits, während sie selbst bei ihren Eltern wohnte. Qing hält ihre Mutter für eine starke und fleißige Frau. Neben ihrer Arbeit in der Schule musste die Mutter noch Reis anbauen, auf die Kinder aufpassen und Feuerwerkskörper herstellen. Bei den Leuten im Dorf war sie hoch angesehen. Qing sagte uns mal:

Ich bewundere meine Mutter sehr. Sie ist so stark. Sie ist die Lehrerin in der Grundschule im Dorf. Ich hoffe, ich werde einmal wie sie.

Qing zieht los

Die Eltern, beide Lehrer, setzten große Hoffnungen in ihre Tochter. Qing spürte den Druck.

Mir gegenüber sprachen sie es nie offen aus, dass ich die Aufnahmeprüfung an der Universität oder an einer anderen Schule schaffen müsste. Aber immer wieder wurde erwähnt, wie fleißig andere Kinder lernen würden oder dass sie es an irgendeine Schule geschafft hätten. Auf diese Weise wurde ich gedrängt, auch so gut zu lernen, um an einer der besten Schulen angenommen zu werden.

Nachdem Qing 1996 die Untere Mittelschule abgeschlossen hatte, meldeten ihre Eltern sie zur Aufnahmeprüfung an der Pädagogischen Schule an. Sie bestand die Prüfung aber nicht. Obwohl sie gerne Lehrerin geworden wäre, wollte sie die Prüfung nicht wiederholen. Das hätte die Familie zu stark belastet. Stattdessen ging sie auf eine Landwirtschaftsschule. Im Hauptfach belegte sie Computerkurse und beschäftigte sich vor allem mit Verwaltungssoftware. Sie meinte, Computerkenntnisse würden ihr in Zukunft bei der Arbeit von großem Nutzen sein.

Nach Abschluss der Schule Mitte 1999 wollte Qing wie andere junge Leute ins gesellschaftliche Leben einsteigen und arbeiten. Da der Staat die zentrale Zuteilung von Arbeitsstellen abgeschafft hatte, musste sie sich selbst eine Arbeit suchen. Zufälligerweise war gerade die Arbeitsbehörde von Dongguan nach Jiangxi gekommen, um Leute anzuwerben. Die Abschlussschüler- und schülerinnen mussten lediglich eine Bewerbungsgebühr von 500 Yuan und die Kosten für die Bearbeitung der Anträge auf Genehmigung der Arbeitsmigration zahlen, um nach Dongguan fahren und dort arbeiten zu können. Qing war gerade siebzehn geworden. Sie wollte losziehen und ihr Glück versuchen. Auch ihre Eltern unterstützten sie darin.

Seit ich klein war, hatte ich noch nie das Dorf verlassen. Ich stellte mir vor, wie aufregend die Welt da draußen ist. Ich wollte raus und neue Sachen erleben, wollte schauen, ob es dort einen Platz für mich gibt. Meine Eltern respektierten meine Entscheidung. Ich fuhr zusammen mit drei Schülerinnen von der Mittelschule los, mit denen ich drei Jahre zusammengewohnt hatte. Als meine Eltern sahen, wie viele Gefährtinnen ich hatte, gab es keinen Grund mehr zur Beunruhigung.

Von den Leuten, die mit ihr nach Dongguan gingen, hatten zwanzig an derselben Schule ihren Abschluss gemacht. Die meisten waren junge Frauen, nur vier oder fünf Männer. Es war eine Gruppe ahnungsloser und unschuldiger junger Leute, die sich da auf den Weg machte. Obwohl Qing ihre Heimat verließ, ohne zu wissen, was sie erwartete, hatte sie keine Angst und fühlte sich auch nicht einsam. Sie war voller Zuversicht, dass sie eine neue und unbekannte Welt entdecken würde.

Über zehn Stunden dauerte die Fahrt, und sie wurden kräftig durchgeschüttelt. Es war schon Mittag, als sie bei der taiwanesischen Elektronikfabrik ankamen. Nachdem sie ihr Gepäck verstaut hatten, gingen sie ins Einstellungsbüro, um die Formalitäten zu erledigen. Qing kann sich noch genau an diese Situation erinnern.

Einer vom Personalbüro sagte zu uns: »Die Arbeit in unserer Fabrik ist sehr anstrengend, man muss die ganze Zeit stehen. Ihr habt gerade erst die Schule abgeschlossen. Schafft ihr das?« Ich sagte mir, mal sehen. Wenn es nicht zu schaffen ist, kann ich den Vorgesetzten fragen, ob ich eine Pause machen kann. Ansonsten dachte ich schon, dass ich das durchstehe. Ich kann was aushalten, und wer was aushalten kann, setzt sich durch.

Für die Mädchen, die gerade vom Dorf in die Fabrik gekommen waren, war alles neu: die riesige Produktionshalle, das Wohnheim, die Kantine, der Platz für Erholung und Ballspiele … Der Gruppenleiter verteilte Fabrikausweise, Arbeitskleidung und Kopftücher. Qing zog die blaue Arbeitskleidung an, band das Kopftuch um und wurde so zur dagongmei. Ihr Leben am Fließband hatte begonnen.

Ein Lohn von 45 Yuan

Qing wurde zur Produktionslinie für elektrische Widerstände eingeteilt. Bevor sie mit der Arbeit anfingen, führte die Geschäftsleitung eine technische Schulung durch.

Ein Widerstand ist nur so groß wie eine Fingerkuppe und wird aus fünf Einzelteilen zusammengebaut. Am Anfang hatten wir mit den Einzelteilen Probleme, weil wir sie uns nicht alle merken konnten. Aber da uns der Gruppenleiter alles geduldig erklärte, habe ich mich schnell eingewöhnt.

Qing kam rasch mit den Arbeitsanforderungen zurecht und führte sich außerdem so gut, dass sie Leiterin der Produktionsgruppe wurde. Unter anderem durfte sie dem Gruppenleiter bei der Ausgabe von Werkzeug und Bauteilen helfen. Der Lohn war niedrig. Pro Tag gab es 9 Yuan, was ein monatliches Einkommen von etwa 270 Yuan ergab. Für jede Überstunde wurden 1,68 Yuan bezahlt, dazu noch 70 Yuan Fleißprämie und 130 Yuan Teuerungszulage. Laut den Fabrikvorschriften arbeitete eine Arbeiterin jeden Tag regulär acht Stunden, der Sonntag war frei. Somit lag der durchschnittliche Grundlohn nur bei drei- bis vierhundert Yuan. Erst durch die Überstunden kamen sie auf bis zu sieben- oder achthundert Yuan.

Um zu verhindern, dass Arbeiterinnen ohne Genehmigung die Fabrik verließen, zog der Fabrikleiter die Personalausweise ein und hielt einen Monatslohn zurück. Diese Praxis war ein Verstoß gegen das Arbeitsgesetz, aber wie Qing sagt:

Wir waren gerade zum Arbeiten hergekommen. Wir wussten einfach nicht, ob uns der Chef die Personalausweise wegnehmen darf.

Bei der ersten Lohnauszahlung bekam sie zu ihrer Überraschung nur 45 Yuan.

Ich hatte zwei Wochen in der Fabrik gearbeitet. Auch wenn die erste Woche Probezeit war, in der wir nur den Grundlohn bekamen und keine Überstunden hatten, hätte ich 225 Yuan bekommen müssen. Die Geschäftsleitung meinte, bei den Neuen würden 400 Yuan einbehalten, davon 180 Yuan im ersten Monat . Damals wusste ich nichts vom Arbeitsgesetz und dachte, das wäre normal.

Auch wenn Qing für den ersten Monat nur 45 Yuan Arbeitslohn bekam, es war das erste Mal, dass sie selbst verdientes Geld in der Hand hatte. Sie war glücklich, weil sie dachte, sie werde nun nie wieder von der Unterstützung ihrer Eltern abhängig sein. Am Abend des Zahltages ging sie mit ihren ehemaligen Mitschülerinnen groß essen. Ansonsten war sie sparsam, um ihrer Familie mehr Geld schicken zu können. Während viele junge Frauen vom Land, die zum Arbeiten fortgehen und Geld verdienen, sich Kleider und Kosmetik kaufen, trug Qing nur Jeans und T-Shirts. Nach drei Monaten Arbeit konnte sie ihrer Familie über 1 000 Yuan schicken.

Ich schulde meiner Familie so viel. Mutter und Vater haben kein hohes Einkommen. Sie mussten für mich und meinen Bruder die Schule bezahlen, sie mussten das Haus bauen. Die Familie machte Schulden, die nach meinem Mittelschulabschluss noch weiter wuchsen. Deshalb schicke ich Geld zurück, jetzt da ich welches habe.

Wegen der hohen Arbeitsintensität, der schlechten Arbeitsbedingungen und der mangelhaften Arbeitssicherheit in der Fabrik, hörten viele von Qings Mitschülerinnen schon nach drei Monaten wieder auf.

Schlafen im Waschraum

Im ersten Monat gab die Fabrikleitung für die Neueingestellten noch kein Produktionsziel vor. Danach wurde die geforderte Stückzahl auf 250, nach drei Monaten auf 450 Widerstände pro Stunde angehoben. Am Fließband arbeitete Qing fleißig, trödelte nie und konnte die zuerst geforderte Stückzahl von 250 schaffen. Aber nach der zweiten Erhöhung musste sie jeden Abend bis nach 22:30 Uhr Überstunden machen. Wenn sie zu müde wurde, versteckte sie sich wie andere Arbeiterinnen im Waschraum und schlief dort eine halbe Stunde. Auch wenn sich die Arbeiterinnen zum Schlafen verdrückten, sie versuchten alles, um das Produktionsziel zu schaffen. Zudem wurden sie streng kontrolliert.

In der Produktion durften wir absolut keine Fehler machen. Sonst gab es gleich Strafmaßnahmen. Vor allem ging es um Fehler bei der Maschinenbedienung. Wenn ein falscher Knopf gedrückt wurde, konnte das einen Systemfehler verursachen und man bekam eine Abmahnung. Bei einer schriftlichen Abmahnung wurde ein ganzer Tageslohn abgezogen. Die Fabrikleitung ließ jeden Tag das ganze Personal zusammenkommen, lobte die beste Abteilung und tadelte die schlechten. Damit schuf sie unter den Arbeiterinnen ein Klima der gegenseitigen Konkurrenz und konnte sie so besser unter Kontrolle halten.

Die Wohnheime lagen gleich neben der Fabrik. In jedem Raum wohnten sechzehn Arbeiterinnen. Sie hatten einen Waschraum und Duschen. Die Fabrikleitung verlangte von den Arbeiterinnen, dass sie jeden Morgen nach dem Aufstehen die Decken ordentlich zusammenlegten und ihre Schuhe nicht herumliegen ließen. Andernfalls riskierten sie, in der Firmenzeitung dafür kritisiert zu werden. Die wichtigsten Dinge des täglichen Bedarfs stellte die Fabrikleitung zur Verfügung, schränkte aber die Möglichkeit der Arbeiterinnen, das Gelände zu verlassen, ein. Zunächst störte sich Qing daran nicht.

Ich hatte so viele Mitschülerinnen hier, da fühlte ich mich nicht einsam. Aber es war total langweilig, den ganzen Tag nur in der Fabrik zu sein. Ich hatte das Gefühl, ich könnte gar nicht die Welt da draußen entdecken und die Stadt Dongguan kennenlernen. Ich hatte überlegt, mich für einen Selbststudienkurs einzuschreiben, um neben der Arbeit zu lernen und mich weiterzubilden. Aber der Kurs war zu teuer. Eine Kurseinheit kostete mehrere Hundert Yuan, das konnte ich nicht bezahlen. Stattdessen kaufte ich mir ein paar Bücher, um für mich zu lernen.

Qings Mitschülerinnen, die die Fabrik verlassen hatten, war es ganz gut ergangen. Ihre ältere Cousine arbeitete in einer anderen Fabrik, in der die Überstunden relativ gut bezahlt wurden. Dahin wollte auch Qing gehen. Nach fünf Monaten kündigte sie.

Völlig fertig

Qing hoffte, mit ihrem Mittelschulabschluss eine Anstellung im Büro zu finden. Aber sie war zu jung und hatte keine Berufserfahrung. Einen halben Monat zog sie durch Dongguan, ohne etwas zu finden. Qing war niedergeschlagen.

Sonst war ich immer selbstbewusst, aber nun hatte ich jedes Selbstvertrauen verloren. In dem halben Monat habe ich gemerkt, dass meine Schulbildung nicht ausreicht. Auf dem Dorf gehen die meisten Mädchen nach der Unteren Mittelschule ab. Da war ich mit meinem Abschluss der Oberen Mittelschule schon was Besonderes. Aber außerhalb des Dorfes reicht das nicht aus.

Nach ihrer Kündigung musste Qing innerhalb einer Woche aus dem Wohnheim ausziehen. Sie kam bei einer Frau aus ihrem Dorf unter. Da sie keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis* mehr hatte, lebte sie in ständiger Furcht, von der für Wanderarbeiter zuständigen Behörde entdeckt zu werden.

Ich hatte Angst vor einer Festnahme und traute mich nicht, länger bei ihr zu wohnen. Sie befürchtete, dass sie ebenfalls Probleme bekommen und wir beide verhaftet werden könnten. Sie hat mir zwar nie direkt gesagt, dass ich ausziehen soll, aber in einigen Gesprächen machte sie solche Andeutungen. In dieser Zeit war ich richtig fertig, körperlich, aber noch mehr seelisch.

Nach einem halben Jahr in Dongguan kehrte Qing schließlich nach Hause zurück. Es war gerade Hochsaison für das Stecken der Reissetzlinge. Nach ihrer Rückkehr beteiligte sie sich sofort an der Landarbeit und der Handfertigung von Feuerwerkskörpern. Die Eltern gingen wie gewohnt arbeiten. Wenn Qing Langeweile hatte, blieb sie im Haus und las. Oft sprach sie mit der Mutter über ihre Probleme.

Früher hatte ich mit meiner Mutter nicht über Probleme sprechen können, aber als ich damals zurückkehrte, war das anders. Sobald Mutter nach Hause kam, unterhielten wir uns. Wenn sie Essen machte, folgte ich ihr in die Küche und wir sprachen miteinander.

Obwohl es zu Hause langweilig war, fand Qing hier Geborgenheit und sie wollte länger bleiben. Aber schon nach zwanzig Tagen hatte ihr Vater ohne ihr Wissen einen Job für sie besorgt – über einen Verwandten, der in einer Fabrik in Bao’an, Shenzhen, einen verantwortlichen Posten hatte. Qing wusste, dass die Familie immer noch verschuldet war, und verstand die Nöte der Eltern. Sie ließ alles stehen und liegen und ging noch einmal fort, um zu arbeiten.

Nochmal weg

Qing machte sich alleine auf den Weg in die fremde Stadt, um dort einen Landsmann zu treffen, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Sie war beunruhigt. Diesmal lief es im Süden nicht so glatt ab. Ihr Landsmann holte sie nicht am verabredeten Ort ab, sie musste mit all ihrem Gepäck in einem ihr fremden Stadtviertel nach ihm suchen und kam erst nach etlichen Schwierigkeiten zu seinem Haus.

Ich war völlig fertig und sagte ihm, dass ich duschen wolle. Er verhielt sich richtig mies. Nach dem Mittagessen wollte ich mich schlafen legen, aber er meinte, wir müssten losziehen, um was zu unternehmen. Ich war so müde und auch nicht gut drauf, aber er wurde unfreundlich. Es sah so aus, als könnte ich nicht Nein sagen, also bin ich mitgegangen.

Qing verstand nicht, warum dieser sogenannte Landsmann ihr gegen­über so gleichgültig sein konnte. Obwohl er in der Fabrik einen verantwortlichen Posten hatte, verschaffte er ihr dort keine Arbeit. Außerdem machte er sich noch lustig über sie. Qing blieb nur eine Nacht und zog früh am nächsten Tag wieder los.

Zunächst ging sie in den Unterbezirk Xixiang in Bao’an, um ihre ältere Cousine zu treffen, die in einer Fabrik arbeitete. Dort wurde aber niemand eingestellt. Sie fand dann eine Stelle in einer Elektronikfabrik. Der Lohn lag bei nur neun Yuan am Tag, oder etwas über 300 Yuan im Monat. Für jede Überstunde gab es 1,8 Yuan. Jeden Tag wurden drei bis vier Überstunden gemacht, sodass erst nach 23 Uhr Schluss war. Die Arbeitsbedingungen waren noch schlechter als in der Elektronikfabrik, in der Qing vorher war. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als dort zu arbeiten. Nur etwas über 200 Leute waren in der Fabrik beschäftigt, die einem taiwanesischen Unternehmer gehörte. Qing arbeitete in der Lötabteilung. Die Werkstattleitung war sehr streng, Qing stand stark unter Druck.

Die Anforderungen beim Löten sind hoch. Du darfst nichts falsch löten, nichts runtertropfen lassen. Das Management war da sehr streng. Für eine, die gerade erst in die Fabrik gekommen ist, war es schwer, Ausschuss zu vermeiden. Aber dafür hatte die Werkstattleitung kein Verständnis. Sobald was falsch lief, wurde ich gescholten, aber nicht nur von einer Person, gleich von allen. Auch wenn ich mich wehrte, brachte das nichts. Ich ging dann zum Verantwortlichen und verlangte von ihm, er solle mich woanders einsetzen.

Neben dem heißen Lötofen

Qings neue Arbeitsstelle lag gleich neben dem Lötofen. Da es in der Fabrikhalle keine Belüftung gab, war es sehr heiß. Immer wieder fielen Arbeiterinnen neben den Öfen in Ohnmacht. Alle zusammen schrieben sie einen Brief an den Chef, in dem sie den Einbau einer Belüftungsanlage forderten. Der Chef reagierte nicht. Für Qing war die extreme Hitze unerträglich und sie kündigte.

Im Juli desselben Jahres fing sie in Bao’an bei einer Elektronikfirma aus Hongkong an. Die mehr als 3 000 Beschäftigten produzierten für eine bekannte japanische Handelsmarke elektrische Haushaltsgeräte. Der Monatslohn lag bei 300 Yuan, dazu kam eine Fleißprämie von 40 Yuan. Überstunden am Samstag und Sonntag wurden mit je 3,7 Yuan vergütet. Nach Qings Meinung waren Lohn und Arbeitsbedingungen in dieser Fabrik weit besser als in den vorherigen. Sie strengte sich also bei der Arbeit an und hoffte, dort länger arbeiten zu können. Sie war es leid, ständig die Fabrik wechseln zu müssen.

Ein unerwarteter Arbeiterkampf

Qing arbeitete in der Platinenbestückung. Sie musste den ganzen Tag stehen, was sehr anstrengend war. Auch dort kam es öfter vor, dass Arbeiterinnen ohnmächtig umfielen. Nach etwa einem halben Jahr kursierte das Gerücht, die Fabrik solle nach Zhongshan verlagert werden. Kundenbestellungen wurden bereits nach Zhongshan weitergereicht. Dann hängte die Fabrikleitung eine Mitteilung aus: »Da die Fabrik keine guten Geschäftsergebnisse erzielt hat, wird keine Jahresendprämie gezahlt und die Erstattung der Fahrtkosten für die Heimfahrt entfällt.« Normalerweise hatte die Fabrikleitung den Arbeiterinnen kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest auch noch Urlaub gewährt.

Manchmal hatten wir tagelang viel zu tun, dann saßen wir wieder tagelang in der Werkhalle rum und drehten Däumchen. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Einige meinten, sie würden die Fabrik früher verlassen und nach Hause zurückkehren. Ich fuhr dann auch nach Hause. Obwohl die Fabrikleitung uns mitgeteilt hatte, dass wir erst am 2. April wieder zur Arbeit erscheinen sollten, bin ich schon Anfang März wiedergekommen.

Als Qing zurückkam, gab es immer noch diese Gerüchte von einer geplanten Verlagerung nach Zhongshan. Alle Arbeiterinnen machten sich Sorgen um ihre Zukunft, aber die Fabrikleitung ließ nichts zu den Beschäftigten durchsickern.

Man konnte riechen, was passieren würde. Die Fabrikleitung schaltete alle Computer ab und es gab keine monatlichen Produktionspläne mehr. Deshalb begannen die Arbeiterinnen einen Bummelstreik und forderten vom Chef eine Klarstellung, ob die Fabrik nun verlagert oder geschlossen werde. Nach drei Tagen Verhandlungen hatte sich der Chef immer noch nicht klar geäußert und uns nicht mal eine formale Antwort gegeben. Er verlangte nur, dass wir so schnell wie möglich die anstehende Arbeit erledigen sollten. Da wir nicht glaubten, dass er uns dann eine Antwort geben würde, streikten wir weiter.

Am Bummelstreik hatten sich viele Arbeiterinnen beteiligt. Ihre Forderung nach einer förmlichen Klarstellung konnten sie zwar nicht durchsetzen, aber der Streik bestärkte sie in ihrem Willen, für ihre Interessen zu kämpfen. Die Fabrikleitung verlangte nun von den Arbeiterinnen, sie sollten ihren Urlaub bis Ende April verlängern, bei Zahlung von nur sechzig Prozent des Lohns. Unter diesen Umständen war Qing nicht bereit, die Fabrik zu verlassen. Sie wollte bis zum Ende durchhalten, um ein klares Bild davon zu bekommen, was da vor sich ging, und um zu erfahren, wie sich der Kapitalist ihnen gegenüber verhalten würde.

Die Fabrik macht dicht

Als am frühen Morgen des 25. April die über 2 000 Arbeiterinnen und Arbeiter wieder zur Arbeit gehen wollten, mussten sie feststellen, dass das Fabriktor verriegelt war. Draußen klebte eine Mitteilung: »Aufgrund schlechter Auftragslage bleibt die Fabrik heute geschlossen.« Die Arbeiterinnen waren äußerst aufgebracht und liefen sofort zur örtlichen Arbeitsbehörde. Mittags hängte die Fabrikleitung einen weiteren Aushang mit drei Punkten aus: »1. Die Arbeitsverträge aller Arbeiter und Arbeiterinnen enden am 1. Mai; 2. Der Lohn für März wird am 25. und 26. April ausbezahlt; 3. Der Lohn für April (eine Zahlung von sechzig Prozent) sowie ein Monatslohn Entlassungsgeld wird am 11. und 12. Mai ausbezahlt.« Qing erinnert sich:

>Wir waren sehr wütend. Wir hatten das Gefühl, dass wir vom Chef wieder und wieder übers Ohr gehauen werden. Deshalb blockierten wir mit vielen Arbeiterinnen und Arbeitern das Fabriktor und ließen kein Fahrzeug auf das Gelände.

Schließlich marschierten noch am selben Tag über 500 Arbeiterinnen und Arbeiter zur Bezirksregierung, um sie zum Eingreifen aufzufordern. Als eine Delegation der Arbeiterinnen ihr Anliegen vorbringen wollte, wurde sie zurückgehalten. Es tauchten Leute vom Fabrikmanagement und von der Arbeitsbehörde auf, die den Arbeiterinnen rieten, zur Fabrik zurückzukehren. Gleichzeitig spielte sich ein Kerl aus den Reihen der Demonstranten eigenmächtig als Arbeitervertreter auf und forderte sie auf, den Ort zu verlassen. Sie kehrten in die Fabrik zurück und diskutierten ihre nächsten
Schritte. Am Abend formulierten und unterschrieben die Arbeiterinnen einen Brief, in dem sie von der Fabrikleitung die Zahlung einer Entschädigung forderten. Am nächsten Morgen zogen sie erneut zur Bezirksregierung und forderten deren Eingreifen, aber ohne Erfolg. Sie blockierten daher wieder das Fabriktor und verlangten Verhandlungen mit der Fabrikleitung.

Ich erinnere mich, wie uns ein Arbeitervertreter* auf einer Versammlung sagte: »Vom 25. bis zum 27. April haben wir durchgehend für mehrere Tage die Straße blockiert – ohne jeden Erfolg. Heute (28.) ist der entscheidende Tag, denn am 1. Mai hat die Bezirksverwaltung frei. Wie lange soll sich das noch hinziehen? Wir Arbeiterinnen haben für die Zeit seit Anfang April noch kein Geld bekommen, nicht mal das Essensgeld. Wir haben alle ein Recht darauf. Jede muss dafür kämpfen!«

Die Arbeiterinnen waren davon ausgegangen, dass sie nach dem Urlaub weiterarbeiten könnten. Sie konnten nicht fassen, dass die Fabrik dicht gemacht und verlagert werden sollte. Qing gab nicht auf und beteiligte sich aktiv am Kampf. Mutig war sie immer ganz vorne bei den Demonstrationen dabei:

Die Frauen standen ganz vorne, weil sich die Polizei nicht traut, gegen Frauen handgreiflich zu werden. Wenn Männer vorneweg laufen, werden die sofort gestoppt. Als wir Sprechchöre anstimmten, bekamen wir viel Unterstützung. Viele bewunderten uns.

Wichtig ist der Zusammenhalt

Nach dieser Bewegung erkannte Qing, wie wichtig es ist, dass die Arbeiterinnen zusammenstehen und organisiert kämpfen.

So eine Sache kann niemand alleine erfolgreich zu Ende bringen. Man muss die Kraft aller bündeln. Als wir auf dem Weg zur Bezirksregierung aufgehalten wurden, waren wir richtig wütend. Einige Frauen protestierten: »Wenn ihr uns nicht weitergehen lasst, sagen wir, ihr hättet uns sexuell belästigt!« Es zeigte sich, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und auch organisiert vorzugehen. Nur wenn alle ein gemeinsames Ziel haben, sich absprechen und gemeinschaftlich kämpfen, kann man wirklich gewinnen.

Den Vertretern der Bezirksregierung machte Qing ihren Standpunkt deutlich.

Als wir zur Bezirksregierung gingen, erklärten uns deren Angestellte wie die der Arbeitsbehörde, wir könnten unser Anliegen nicht vorbringen, das sei ungesetzlich. Um eine Petition einzureichen, müsse man erst einen Antrag stellen. Am selben Tag ging einer unser Vertreter zur Arbeitsbehörde und handelte aus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter nach dem 1. Mai ihren Lohn abholen können. Ich sagte daraufhin, dass unsere Arbeitsverträge zum 1. Mai auslaufen und die Fabrik schließe. Wo sollten wir denn dann hingehen, um die Löhne abzuholen? Der von der Arbeitsbehörde fragte mich, ob ich eine Arbeitervertreterin sei. Andernfalls könne er mit mir nicht verhandeln. Er meinte, wir würden die Gesetze nicht verstehen. Einige Frauen fingen an zu weinen. Er dachte wohl, wir hätten kein Recht, dort etwas vorzubringen.

Das chinesische Arbeitsgesetz legt fest: Wenn eine Firma schließt, muss sie ihren Beschäftigten eine Abfindung zahlen. Diese berechnet sich nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und dem durchschnittlichen Monatslohn. Die Fabrikleitung zeigte sich letztlich nur bereit, den Arbeiterinnen Ende April den Mindestlohn zu zahlen, den das Arbeitsgesetz vorschreibt. Um ihre Abfindung zu bekommen, blieb den Arbeiterinnen nichts anderes übrig, als bei der Schlichtungsstelle* Beschwerde einzulegen und dort weiter für ihre Rechte zu kämpfen.

Qing will nach Hause

Zwei Monate nach den Aktionen fand Qing in Xixiang Arbeit in einer Druckerei. Lohn und Beschäftigungsbedingungen sind etwa so wie bei den vorangegangenen Arbeitsstellen. Sie überlegt ernsthaft, ob sie nach Hause zurückkehren soll. Sie sagt mir, wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie im Dorf bleiben. Shenzhen, diese schillernde Stadt, habe für sie keine Anziehungskraft mehr. Sie verabscheue die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Stadtmenschen.

Die Städter sind so kühl und distanziert. Für sie zählt nichts außer Geld. Die Leute vom Land dagegen sind einfach und ehrlich. Deswegen können sich viele von ihnen nicht an das Leben in der Stadt gewöhnen. Ich will nach Hause zurück und mich mit aller Kraft im Dorf einbringen. Die Leute vom Land ziehen in die Stadt, weil das Dorf rückständig ist. Ich will deswegen meine Fähigkeiten für die Entwicklung meiner Heimat einsetzen. Auch auf dem Land kann ich mich selbst verwirklichen. Entscheidend ist zu erkennen, wie du es tun kannst. Man muss nur seinen eigenen Weg finden. Ich will es versuchen.

Sie spürt, dass sie nicht nach Shenzhen gehört. In ihrem Leben ist die Stadt nur ein vorübergehender Aufenthaltsort.

 

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