Erzählung: Xiao – Unschlüssiges Hin und Her


[Erzählung aus der chinesischen Ausgabe von Pun Ngai/Li Wanwei: dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin 2008 [als PDF]

Die 26-jährige Xiao (晓) ist Ehrenamtliche unseres Arbeiterinnen-Netzwerks. Gewöhnlich ist sie beim »Frauengesundheitsexpress«1 aktiv und betreut andere dagongmei. Mit siebzehn Jahren ging sie von Zuhause fort, um Geld zu verdienen. Ihr Weg führte sie nach Dongguan, Shenzhen und Zhuhai. Heute ist Xiao Bandarbeiterin in einer ausländischen Metallfabrik im Stadtbezirk Bao’an von Shenzhen. Sie ist in sich gekehrt und spricht wenig. Wegen eines Arbeitsunfalls kam sie zu uns und bat um Unterstützung. Nach und nach erfuhren wir, dass sie in ihrer Kindheit viele Rückschläge erlitten hatte, die zu einem mangelnden Selbstvertrauen führten.

Verlust der Mutterliebe

Xiao ist in einer armen Gebirgsregion in der Provinz Guangxi geboren. Der Ort war abgelegen und schwer zu erreichen. Die Bauern lebten vom Reisanbau und von der Korbherstellung. Von klein an flocht Xiao mit den Frauen aus dem Dorf Körbe, die sie zum Verkauf in die Stadt brachten, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Als Xiao neun Jahre alt war, nahm ihre Mutter die wenige Monate alte Schwester und verließ die Familie. Sie hatte es nicht ertragen können, wie ihr Mann Jungen gegenüber Mädchen bevorzugte.

Meine Mutter bekam vier Töchter in Folge. Mein Vater war missmutig, weil es keine Söhne in der Familie gab. Er suchte oft Streit und meine Mutter war sehr traurig. Aufgrund seines Aberglaubens* wurde der Vater verhaftet und saß sieben Monate im Gefängnis. Kurz nachdem er wieder rausgekommen war, nahm meine Mutter meine jüngste Schwester und ging fort. Seitdem ist sie nicht wieder zurückgekehrt.

Für mich kam es sehr überraschend, dass meine Mutter fortging. Wir waren damals noch klein und hätten ihre Fürsorge gebraucht. Mein Vater verkaufte alle Dinge aus dem Haushalt, die er loswerden konnte, auch für den Bau eines Hauses vorgesehene Ziegelsteine, Dachschindeln und Holzbalken, um die Mutter zu suchen und zurückzuholen. Aber er fand sie nicht.

Während sie erzählt, laufen Xiao Tränen über das Gesicht. Sie würde so gerne ihre Mutter wiederfinden, die sie in jungen Jahren verloren hat. Aber sie weiß, dass ihre Mutter nicht glücklich war, weil sie mit dem Vater zusammenleben musste, den sie nicht liebte und mit dem sie sich nicht gut verstand. Nachdem die Mutter fortgegangen war, lastete die Verantwortung für die Familie alleine auf den Schultern ihres Vaters.

Xiao war zu Hause das älteste Mädchen und musste sich nun um den Haushalt und die kleinen Schwestern kümmern. Dadurch war sie schon sehr früh selbständig. Neben der Schule erledigte sie auch noch die Hausarbeit. Nach dem Abschluss der vierten Klasse musste sie die Schule aufgrund der ärmlichen Familienverhältnisse aufgeben. Xiao, damals gerade erst dreizehn Jahre alt, beschwerte sich nicht.

Die Härten des Arbeitslebens

Nachdem sie vier Jahre lang zu Hause die Feldarbeit gemacht hatte, traf Xiao im Jahr 1993 ihre ältere Cousine, die in der Stadt arbeitete und Geld verdiente. Xiao bat ihre Cousine, sie in die Stadt zum Arbeiten mitzunehmen. Der Vater war davon nicht begeistert. Er und die drei Schwestern mussten sich umeinander kümmern, und der Vater machte sich Sorgen, da Xiao noch so jung war. Aber Xiao hatte einen starken Willen. Von einer Frau aus dem Dorf lieh sie sich den Personalausweis* und von ihrer Tante das Geld für die Reise. Zu dritt, drei Cousinen, gingen sie zum Arbeiten fort. Damals war Xiao voller Hoffnung:

Ich wollte viel Geld verdienen und dann zurückkommen, um so meinen Vater zu entlasten. Die Zeit kurz nach dem Aufbruch war schwierig.

Die ältere Cousine nahm uns mit, aber unsere paar Zehn-Yuan-Scheine waren schon fast aufgebraucht, noch bevor wir unser Ziel erreicht hatten. Einmal mussten wir sogar auf der Straße schlafen.

Xiao seufzt tief, als sie über diese Erfahrungen spricht. Sie bilden die unvermeidliche Kehrseite der hochgesteckten Erwartungen, die die jungen Frauen hegen, wenn sie das erste Mal aufbrechen. Diesen Teil ihrer Geschichte können sie am wenigsten vergessen.

Obwohl meine ältere Cousine schon mal nach Shenzhen gegangen war, kannte sie den Weg nicht genau. So sind wir schon in Songgang ausgestiegen. Es regnete heftig und überall auf den Straßen stand Wasser. Wir hatten kein Geld mehr und mussten eine Nacht unter einer Brücke verbringen. Am nächsten Tag wartete die ältere Cousine, bis der Regen nachließ. Sie wollte zuerst zu ihrem Betrieb gehen, um sich Geld zu leihen, und sollte uns dann abholen.

Eine junge Frau, gerade vom Dorf nach Shenzhen gekommen, ist nicht darauf gefasst, gleich in eine schwierige Situation zu geraten, von einem heftigen Regenguss empfangen zu werden und die Nacht auf der Straße verbringen zu müssen. Das unbekannte, kalt wirkende Industriegebiet steigerte noch ihre Beklemmung. Da Xiao zu jung war und der Personalausweis nicht ihr gehörte, traute sie sich nicht, sofort in einer Fabrik nach Arbeit zu fragen. So dauerte es, bis sie einen Job fand.

In Longhua, Shenzhen, suchte ich lange nach Arbeit, fand aber keine. Meine Cousine wusste nicht weiter und brachte mich zu einer Tante nach Dongguan. Ich hatte aber keine Chance, in der Elektronikfabrik anzufangen, in der die Tante arbeitete. Ich wusste nicht, wie ich einen Betrieb finden sollte. Die Tante hatte viel zu tun und keine Zeit, mich bei der Suche zu begleiten.

Einige Tage blieb Xiao in Dongguan, ohne etwas zu erreichen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu ihrer Cousine zurückzukehren. Schließlich konnte sie in Buji, Shenzhen, in einer Papierfabrik anfangen, in der ein- bis zweihundert Leute unter anderem Papiertüten und Geschenkkartons herstellten. Der Lohn lag nur knapp über zweihundert Yuan. Da sie die ganze Zeit keine Arbeit hatte finden können, durfte sie nicht wählerisch sein und schloss einen zweijährigen Arbeitsvertrag ab. Später hatte die Firma nicht genug Aufträge, und für die Arbeiterinnen gab es oft nichts zu tun. Nach zwei Monaten kündigte Xiao und wechselte durch Vermittlung einer Frau aus ihrem Dorf in eine Schmuckfabrik. Dort verdiente sie acht oder neun Yuan am Tag, etwa zweihundert Yuan im Monat.

Ich arbeitete in der Produktion. Alle diese Teile waren schlecht zu greifen. Wenn es viel zu tun gab, mussten wir täglich fünf Überstunden machen und konnten auch am Wochenende nicht ausruhen. Die Arbeit war sehr anstrengend. Vom ständigen Hantieren mit der Zange waren unsere Hände ganz geschwollen.

Da die Firma Stücklohn zahlte, arbeiteten die Frauen ohne Unterbrechung, um mehr Geld zu verdienen. Das Kantinenessen war miserabel, es bestand aus zerkochtem Gemüse.

Selten sprach die einsame und verschlossene Xiao mit anderen über sich. Sie war dieses Arbeitsleben nicht gewöhnt und sehnte sich sehr nach Zuhause. Ab und zu klagte sie gegenüber ihrem Vater ihr Leid, aber im ersten Jahr nach ihrem Fortgang konnte sie nicht zum Frühlingsfest nach Hause fahren.

Die Zugfahrt zurück war sehr teuer und ich hatte damals kein Geld. Als meine Cousine nach Hause fuhr, konnte ich ihr nur zweihundert Yuan für meinen Vater mitgeben. Es war wirklich schwer, dort Geld zu verdienen.

Der Vater wusste von den Schwierigkeiten seiner Tochter und machte sich Sorgen. Zufällig kehrte am Frühlingsfest ein entfernt verwandter Onkel von Zhuhai aus nach Hause zurück. Der Vater hoffte, Xiao könne mit ihm zusammen nach Zhuhai fahren, um dort eine Arbeit zu finden. Er forderte Xiao auf, ihre Stelle zu kündigen und nach Hause zu kommen. Einen Tag nach ihrer Rückkehr fuhr sie mit diesem Onkel und mehr als zehn weiteren Schwestern aus dem Dorf nach Zhuhai. Der Onkel arbeitete dort in einer Fabrik beim Wachschutz. Er war nur nach Hause gefahren, um im Auftrag der
Geschäftsleitung Leute anzuwerben. Dafür kassierte er eine Vermittlungsprämie von zweihundert Yuan, zuzüglich der Reisekosten von hundert Yuan. Xiao ist immer noch wütend auf ihn:

Obwohl wir aus demselben Dorf kommen, ist er so ein Arsch und verdient mit uns so viel Geld. Für diese befristeten Arbeitserlaubnisse*, die Reisekosten und die Grenzpassierscheine* hat er nie und nimmer so viel ausgeben müssen.

Die Fabrik in Zhuhai

In Zhuhai fing Xiao in einer Plastikblumenfabrik mit über tausend Beschäftigten an. Die tägliche Arbeitszeit betrug zwölf Stunden und im Stücklohn kamen sie auf zehn bis zwölf Yuan am Tag. Xiao arbeitete als Maschinenbedienerin. Die Bedingungen in der Produktionshalle waren miserabel. Da bei der Bearbeitung der Kunststoffmaterialien für die unterschiedlichen Produkttypen ständig Plastik erhitzt und geschmolzen werden musste, war es in der Halle sehr heiß. Im Winter ließ es sich in Sommerkleidung noch aushalten, aber im Sommer war es unerträglich. Alle paar Minuten mussten sie sich das Gesicht waschen.

Die Arbeit war oft gefährlich. Zum Beispiel konnte man sich am Kunststoff, der beim Schmelzen herabfiel, Verbrennungen holen oder bei der Herstellung von Blütenblättern mit der Hand festkleben. Die Geschäftsleitung hatte keine Abluftanlage installiert. Es war mühselig, bei den hohen Temperaturen zu arbeiten. Dafür lag der Lohn in dieser Halle etwas höher als in den anderen Abteilungen. Auch wenn es anstrengend war, wir mussten weitermachen und durchhalten.

Mit der Arbeitssicherheit gab es ständig Probleme. Xiao hatte im April in der Fabrik angefangen und schon nach einem Monat quetschten sich zwei Arbeiterinnen an den Maschinen die Hand.

Bei uns in der Halle passierten oft Arbeitsunfälle. Die Formen wurden mit der Hand in die Stanzen eingelegt. Manchmal machten die Arbeiterinnen das nicht richtig, dann wurde ihnen beim Drücken der Schalttaste die Hand gequetscht. Manchmal gerieten Maschine und Stanzform außer Kontrolle und verletzten eine Arbeiterin. Ich war gerade einen Monat dort, als das zwei Arbeiterinnen passierte, darunter einer jungen Frau, die erst kurz vorher angefangen hatte. Ihre Hand war danach verkrüppelt. Später zerquetschte sich eine aus meinem Dorf, die etwa zwanzig Tage dort gearbeitet hatte, den kleinen Finger. Sie musste den einen Monatslohn nehmen und nach Hause zurückkehren.

Ohne Kenntnis des Arbeitsgesetzes* wussten die jungen Frauen nicht, wie sie sich gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen in der Fabrik hätten wehren können. Angesichts der unerträglichen Situation blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu kündigen und nach Hause zu fahren. Auch Xiao und die anderen Schwestern, mit denen sie aufgebrochen war, arbeiteten nur etwa ein halbes Jahr dort, bevor sie wieder heimkehrten.

Da ihr Vater zum Arbeiten nach Shanghai gegangen war, kümmerte sich Xiao nach ihrer Rückkehr um ihre zwei kleinen Schwestern. Trotzdem hatte sie zunehmend das Gefühl, dass es hier für sie nichts zu tun gäbe. Nach dem Frühlingsfest fuhren Xiao und eine ihrer Mitschülerinnen wieder zur Arbeit in die Provinz Guangdong. Die beiden kleinen Schwestern, die noch zur Schule gingen, passten gegenseitig aufeinander auf. Das nötige Geld bekamen sie vom Vater und von Xiao, die sich die Ausgaben teilten.

Xiao und ihre Mitschülerin gingen nach Dongguan in den Stadtbezirk Houjie. Die Mitschülerin fing in einer Elektronikfabrik an. Ohne das Abschlusszeugnis der Grundschule musste sich Xiao mit einem Job in einer Handtaschenfabrik begnügen. Die Firma zahlte nur 8,5 Yuan am Tag und das Management war sehr streng. Nach drei Monaten wechselte Xiao zu einer Elektronikfabrik in Shenzhen. Den dagongmei wird es nicht leicht gemacht, von sich aus zu kündigen. Als Xiao die Firma verließ, bekam sie für den laufenden Monat keinen Lohn ausgezahlt und es wurde ihr verboten, ihre Sachen mitzunehmen.

Ich hatte schon einige Tage vorher gekündigt. Als ich nach der Schicht ins Wohnheim ging, durfte ich mich nur umziehen, aber keine anderen Sachen aus dem Wohnheim mitnehmen. Zum Glück war gerade Sommer, ich hatte nämlich keine Bettdecke.

Xiao wird immer noch wütend, wenn sie daran zurückdenkt, mit welchen Schwierigkeiten die Kündigung verbunden war.

In der Elektronikfabrik in Shenzhen war sie zunächst einfache Arbeiterin. Einschließlich Unterkunft und Verpflegung betrug der Monatslohn nur 180 Yuan. Später stieg sie in die
Qualitätssicherung auf, wo sie 270 Yuan verdiente. Die Firmenleitung befand sich aber oft mit den Lohnzahlungen im Rückstand und zahlte meistens nur alle zwei Monate. Die Arbeiterinnen beschwerten sich bei der zuständigen Abteilung, aber es änderte sich nichts. Xiao arbeitete fast zwei Jahre dort, der Lohn stieg in dieser Zeit auf vier- bis fünfhundert Yuan an.

Als einer ihrer Chefs kündigte und zu einer anderen Firma ging, wechselte Xiao im Februar 1998 auch dorthin. Diese Firma ging aber schon bald in Konkurs. Zunächst wollte die Geschäftsleitung den Arbeiterinnen keinen Lohn zahlen, aber die Werkstattleiter nahmen alle Arbeiterinnen mit zur Arbeitsbehörde, um eine Beschwerde einzureichen. Letztlich bekamen sie doch ihren Lohn.

Nachdem sie die Fabrik verlassen hatte, suchte Xiao Zuflucht bei Leuten aus ihrem Dorf, die auf einer Baustelle in Longhua, Shenzhen, arbeiteten. Sie sagt, dies seien die schönsten Tage ihres Arbeitslebens gewesen.

Wir wohnten zu fünft auf dem Bett der beiden jungen Männer. Tagsüber gingen wir los, um Arbeit zu suchen, ansonsten waren wir mit den anderen aus unserem Dorf zusammen, spielten Karten und unterhielten uns. Wenn es regnete, wurde auf der Baustelle nicht gearbeitet. Dann gingen wir alle zusammen raus, um uns die Zeit zu vertreiben. Ich hatte zwar keine Arbeit, aber dennoch waren es meine schönsten Tage.

Meistens wirkt Xiao niedergeschlagen, aber als sie von dieser glücklichen Zeit erzählt, macht sie ein begeistertes Gesicht, ohne es selbst zu merken.

Unerträgliche Erinnerung an einen Arbeitsunfall

In Longhua hatte Xiao bereits in einigen Elektronikfabriken gearbeitet, alle mit ähnlich miesen Bedingungen. Mit ihren 25 Jahren gehörte sie unter den dagongmei jetzt schon zu den älteren Arbeiterinnen, die normalerweise von den Elektronikfirmen gar nicht mehr eingestellt wurden. Ohne Arbeit zu sein ist für eine dagongmei gefährlich, da sie dann weder eine befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis noch einen Platz zum Schlafen hat. Mit Kummer erinnert sich Xiao an jene Tage, als sie weder ein noch aus wusste.

Anfang 2001 fing sie in Bao’an, Shenzhen, in einer koreanischen Werkzeugfabrik an. Dort hatte sie einen Arbeitsunfall, dessen Folgen ihr noch heute zu schaffen machen. Sie hatte schon gehört, dass die Firma wenig zahlte, aber es war schwierig gewesen, überhaupt Arbeit zu finden. Xiao wollte erstmal dort anfangen und später weiterschauen. Noch vor Ablauf ihrer dreimonatigen Probezeit kam es zu dem Arbeitsunfall. Xiao wirkt sehr bedrückt, als sie an die damalige Situation denkt. Mit traurigem Gesichtsausdruck und gesenkter Stimme sagt sie:

In unser Fabrik gab es zwei Schichten. Die Tagschicht musste bis nach 23 Uhr Überstunden machen, die Nachtschicht fing um 21 Uhr an. Einmal kam eine junge Frau aus der Tagschicht und sprach mit mir. Ich unterhielt mich mit ihr und arbeitete gleichzeitig weiter. Ich hatte ein Werkstück noch nicht richtig einlegt, da drückte sie schon den Schalter der Maschine. So waren die Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft gesetzt und mein Finger wurde von der Maschine zermalmt. Zuerst floss gar kein Blut, ich sah nur, dass ein Stück vom Finger abgequetscht worden war. Wir beide bekamen einen Riesenschreck und wussten nicht, was wir machen sollten. Da kam schon die Gruppenleiterin, und ich erzählte ihr, dass mein Finger verletzt worden sei. Sie ließ jemanden Geld holen und brachte mich ins Krankenhaus.

Keine Behandlung im Krankenhaus

Die Geschäftsleitung hatte bereits um 21:30 Uhr Feierabend. Als ich im Krankenhaus von Bao’an ankam, fragte mich der Arzt, wie er mich behandeln solle. Die Gruppenleiterin wollte das nicht entscheiden und sagte nur, wir müssten warten, bis das Geld von der Firma kommt. Sie holte jemanden, der bei mir blieb, und ging zurück in die Fabrik zum Arbeiten. Meine Hand wurde mit sechs Stichen genäht. Als sie mir die Infusion abnahmen, war es schon nach drei Uhr, kurz vor Morgengrauen. Die Leute von der Personalabteilung entschieden, mich nicht ins Krankenhaus einzuweisen, sondern zurück ins Wohnheim zu bringen. Als die Betäubung abklang, fing die Hand an zu schmerzen, und ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag wurde ich wieder zur Infusion gebracht. Ich fragte bei der Geschäftsleitung nach, warum sie mich nicht im Krankenhaus bleiben ließ. Mir wurde gesagt, im Krankenhaus könnten sie auch nicht mehr tun, als mir eine Infusion zu geben. Es würde keinen Unterschied machen, außer dass es die Firma sehr viel mehr kosten würde. Ich dachte mir, das Schlimmste hätte ich mit diesem Abend schon hinter mir und es
hätte keinen Sinn mehr, ins Krankenhaus zu gehen. Also beließ ich es dabei.

Nach drei Infusionen tat Xiao ihre Hand immer noch weh. Widerwillig gewährte die Geschäftsleitung ihr noch zwei Tage, danach sollte nur noch der Verband gewechselt werden. Die Verschleppungstaktik und Ignoranz der Firmenleitung machte Xiao wütend:

Im Krankenhaus sagten sie, der Verband müsse alle zwei Tage gewechselt werden. Aber die Geschäftsleitung verschob es immer um einen Tag. Als dann die Fäden gezogen werden sollten, kam niemand, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Ich ging ins Büro, aber sie taten so, als wären sie zu beschäftigt. Dadurch verpasste ich den Termin.

Es war keine Lappalie. Xiao hatte die Kuppe ihres kleinen Fingers verloren, musste körperliche Schmerzen ertragen und stand auch seelisch unter großem Druck.

Die Sache war zu lange hinausgeschoben worden und das gerade verheilte Wundfleisch völlig mit den Fäden verwachsen. Als die Fäden gezogen wurden, tat es besonders weh. Ich hätte heulen können. Ich sagte der Krankenschwester, sie solle das Wundfleisch wegschneiden, aber sie war hartherzig und meinte nur, ich solle nicht so rumjammern. Ich hatte mehr Schmerzen als bei der Operation und es tat mir auch seelisch weh! Als ich an dem Abend nach Hause zurückkehrte, konnte ich nur an den Eingriff im Krankenhaus denken. Es war, als hätten sie mir nicht nur das Fleisch zerschnitten, sondern auch den Knochen. Lange Zeit hatte ich bei der Arbeit Glück gehabt, der Arbeitsunfall kam ganz unerwartet. Ich fühlte mich verstümmelt und dachte, ich würde womöglich mein ganzes Leben lang meiner Hand nachtrauern.

Xiao sagt, sie habe die junge Frau gehasst, die ihren Arbeitsunfall verursacht hatte.

Ich verabscheute sie. Ohne jeden Grund hatte sie meinen Finger abgequetscht. Nach dem Unfall kam sie kein einziges Mal vorbei, um mich zu besuchen. Die hat wirklich kein Gewissen. Und als die Vorarbeiterin sie fragte, ob sie nicht diejenige sei, die meinen Finger abgequetscht habe, traute sie sich nicht mal, das zuzugeben.

Als die Geschäftsleitung später erfuhr, wie es zu dem Unfall gekommen war, entließ sie die Frau. Das ist Xiao bis heute unangenehm, weil sie denkt, sie sei dafür verantwortlich, dass die Frau ihre Arbeit verloren hat. In dieser Metallfabrik passieren oft Arbeitsunfälle, aber in den allermeisten Fällen sind dafür nicht andere Arbeiterinnen verantwortlich.

Ein Mal habe ich an der Sicherheitsschulung teilgenommen. In einer Abteilung gab es sehr viele Arbeitsunfälle, allein in diesem Jahr über zehn. Bei den schwereren Unfällen fehlt danach eine Hand, oder die fünf Finger sind nicht mehr komplett. Bei kleineren fehlt ein Fingerglied. Die Arbeiterinnen dort sagen, dass alle Plätze gefährlich sind.

Was die Leute noch wütender machte, war die Behauptung der Geschäftsleitung, die Arbeiterinnen würden die Unfälle selber verursachen, weil sie unvorsichtig sind. Mit dem Argument konnten sie dann bei Lohnerhöhungen benachteiligt werden.

Die Gruppenleiterin meinte, die Leute mit Arbeitsunfall brächten die schlechtesten Leistungen, deshalb bekämen sie auch die geringsten Prämien. Dadurch wurden alle unter Druck gesetzt.

Während ihre Hand langsam heilte, machte Xiao eine schwere Zeit durch:

In dieser Zeit war ich sehr verunsichert. Ich wusste nicht, wie lange ich mich erholen könnte. Ich sah, wie die anderen zur Arbeit gingen, und ärgerte mich, dass ich im Wohnheim bleiben musste. Ich wollte auch los zur Arbeit. Wenn ich jetzt daran denke, finde ich es lächerlich. Wie hätte ich damals arbeiten sollen! Als es mir dann wieder besser ging und ich hätte arbeiten können, hatte ich Angst. Ich traute mich nicht hinzugehen. Es war eine lange Zeit vergangen. Ich hatte mit der Geschäftsleitung noch nicht über Schadensersatz gesprochen. Damals ging ich davon aus, dass es für eine Fingerverletzung eine offizielle Behandlungszeit von mindestens drei Monaten gibt. Aber ich befürchtete, die Verletzung könnte nach dem Ende der Behandlung nicht anerkannt
werden. Deswegen stand ich unter großem Druck.

Die stille und verschlossene Xiao unterhielt sich nur selten mit den übrigen Kolleginnen, aber alle, die mit ihr im selben Zimmer wohnten, waren nach dem Unfall bereit, ihr im Alltag beizustehen. Xiao lehnte das freundlich ab.

Als meine Hand verletzt war, konnte ich keine Wäsche waschen. Sie wollten mir dabei helfen, aber ich ließ sie nicht. Sie waren nach den Überstunden so erschöpft. Ich war schließlich den ganzen Tag im Wohnheim und hatte nichts zu tun. Sollte ich ihnen da noch zur Last fallen? Soweit es ging, zog ich einfache und bequeme Sachen an, die lassen sich auch leichter waschen.

Nachdem Xiaos Wunde verheilt war, sprach sie mit der Firmenleitung über die Einstufung des Arbeitsunfalls. Er wurde als Behinderung zehnten Grades bewertet. Nach den damaligen Bestimmungen der Arbeitsunfallversicherung* der Provinz Guangdong standen ihr sechs Monatslöhne Invaliditätsentschädigung zu. Für den Fall, dass sie nicht wieder in der alten Firma arbeiten könnte, müsste diese zusätzlich ein Unfallentlassungsgeld zahlen (etwa vier Monatslöhne). Xiao wollte nicht wieder dort arbeiten und verlangte die Auszahlung des Entlassungsgeldes, aber die Geschäftsleitung verschleppte es immer wieder. Von September bis Dezember ging sie fast täglich zur Firma und forderte ihre Entschädigung.

Jeden Tag ging ich zum Büro der Geschäftsleitung. Die vom Werkschutz waren ruppig und sagten immer, der Chef sei nicht in Shenzhen und die Verantwortlichen würden sich nicht einfach so mit Arbeiterinnen treffen.

Später bot ihr die Geschäftsleitung an, sie könne das Geld sofort bekommen, wenn sie eine Entschädigungszahlung von drei Monatslöhnen akzeptieren würde. Sollte sie aber auf den vier Monatslöhnen bestehen, so müsse man die Rückkehr des koreanischen Chefs abwarten. Xiao gab nicht nach. Erst im Januar 2002 erklärte sich die Firma bereit, die gesamte Entschädigungssumme zu zahlen. Xiao nahm das Geld und verließ die Firma.

Sehnsucht nach einer Familie

Xiao kehrte nach Hause zurück, um einen Partner zum Heiraten zu suchen. Sie stand stark unter Druck, da sie schon 26 Jahre und immer noch nicht verheiratet war. Sie sehnte sich nach einer eigenen Familie, da sie schon in früher Kindheit die Liebe der Mutter verloren hatte. Heute sagt Xiao mit Bitterkeit in der Stimme:

Ich bin schüchtern und wenig selbstbewusst. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Belastung zu Hause so stark war, dass mir das Atmen schwer fiel und alles aussichtslos erschien. Jeden Tag dachte ich über viele Sachen nach, wollte aber nicht mit anderen darüber sprechen. In meiner Kindheit hatte ich zu Hause sehr gelitten und bin dadurch ängstlich geworden. Daher kann ich mir keinen Mann suchen, dessen Familie noch ärmer ist als meine. Früher bin ich schon mal mit einem jungen Mann zusammen gewesen. Er war sehr nett, aber ich gab ihn auf, als mir klar wurde, wie schwer er es zu Hause hatte. Ich hoffe, einen zuverlässigen und reifen Mann zu finden.

Xiao lernte zwar aus all den Rückschlägen und ging aus den Belastungen des Arbeitslebens gestärkt hervor. Aber hinter der Fassade ihrer »Stärke« wurde sie depressiv und schottete sich in ihrer eigenen Welt ab. Kann eine Ehe, auf die Xiao hofft, ihrem Dasein mehr Glück bringen? Wir wollen uns nicht ausmalen, welche Lebensbedingungen sie als Schwiegertochter in einem Dorf in einer armen Gebirgsgegend erwarten würden. Nach vielen Jahren Arbeit in der Fremde hat sie sich an das Leben und die Kultur in der Stadt gewöhnt. Kann sie sich bei einer Rückkehr wieder an das dörfliche Leben anpassen? Kann sie dort wirklich ihr Glück finden?

Ein halbes Jahr nach dem Interview fragten wir uns, wie es Xiao zu Hause auf dem Land wohl ergeht. Zu unserer Überraschung erfuhren wir, dass sie mit ihrer schmächtigen Figur wieder in den ruhelosen Reihen der dagongmei aufgetaucht ist. Wir konnten nur in aller Eile ein paar Worte mit ihr wechseln, bevor sie wieder ans Fließband zurück musste. Wir wissen nicht, ob sie ihre Träume verwirklichen kann. Wir können ihr nur viel Glück wünschen.


Fußnote

1 Das Arbeiterinnen-Netzwerk, 女工关怀, nü gong guan huai, betrieb zur Zeit der Interviews einen Bus, der zu den Wohnheimen der Arbeiterinnen fuhr und dort Informationen zur Gesundheitsversorgung gab und praktische Hilfestellung leistete.

 

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