Erzählung: Fen – Einen sicheren Hafen finden


[Erzählung aus der chinesischen Ausgabe von Pun Ngai/Li Wanwei: dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin 2008; hier auch als PDF]

Wir lernen die Arbeiterin Fen (芬) in einem Fabrikwohnheim kennen. Im Vergleich zu anderen dagongmei wirkt sie ruhig und erwachsen. Schon bei unserer ersten Begegnung vertraut sie uns Geschichten an, die sie bisher in ihrem Innersten verborgen hielt. Ihrer Meinung nach hängen ihre vielen emotionalen Probleme mit der Arbeit in der Fremde zusammen. Wir sind beeindruckt von ihrem grenzenlosen Vertrauen.

Schon fünf Mal bin ich nach Guangdong gekommen. Fast immer hatte es was mit Gefühlen zu tun. Nach außen wirke ich aufgeschlossen und lebensmunter. Aber ich habe schon viele Rückschläge erlitten und trage viel Kummer mit mir herum. Die Probleme, vor denen ich gerade stehe, bereiten mir am meisten Kopfschmerzen. Ich kann das nicht für mich behalten und muss darüber sprechen.

Wir verabreden ein Interview für den Nachmittag. Fen hat ihre Arbeit gekündigt und steht kurz vor der Heimreise. Obwohl sie in Eile ist, erzählt sie uns ihre ganze Geschichte:

Oje! Ich habe gerade zu Hause angerufen. Meine Familie hat mir eine Frage gestellt, auf die ich keine Antwort weiß. Ob ich nach meiner Rückkehr bei meinem Ehemann oder im Haus meiner Eltern wohnen werde? Spaßeshalber habe ich gesagt, ich würde mir ein eigenes Zimmer mieten. Aber die Frage bereitet mir ernsthaft Kopfschmerzen. Ich habe gekündigt und fahre nach Hause, weil ich gesund werden will, aber auch, um die Probleme zwischen mir und meinem Ehemann zu lösen.

Als Fen ihre Ehe erwähnt, wirkt sie vollkommen resigniert. Sie ist zwar schon zwei Jahre verheiratet, steht aber immer noch unter starkem Druck, vor allem von Seiten ihrer Familie. Die war von Anfang an gegen die Ehe, für die sich Fen entschieden hatte.

Im Kreis gedreht

Fen ist 28 Jahre alt und kommt aus Chongqing. Der Vater war ein Funktionär, die Mutter eine typische Frau vom Land, die zu Hause auf die Kinder aufpasste und die Hausarbeit erledigte. Ihr ging es gesundheitlich nicht gut. Die Familie verfügte über ein mittleres Einkommen. Fen hat einen älteren und einen jüngeren Bruder sowie eine ältere Schwester. Außer ihr hatten bereits alle in der Familie einen städtischen hukou1 angenommen. Ihre beiden älteren Geschwister arbeiteten, der kleine Bruder ging noch zur Schule. Da Fens Leistungen in der Schule schlecht waren und sie nicht weiter hingehen wollte, blieb sie nach Abschluss der Unteren Mittelschule zu Hause und übernahm die
Bestellung der gesamten Ackerfläche ihrer Familie. Fen lacht und sagt:

Je schlechter meine Leistungen, desto weniger Lust hatte ich, zur Schule zu gehen. Bis heute habe ich nicht bereut, dass ich nicht weitergemacht habe. Wenn man so schlecht ist wie ich, kommt eh nichts dabei raus. Ich hätte nichts Besseres tun können, als auf dem Feld zu arbeiten und mich körperlich fit zu halten.

Es war im Jahr 1992, als der Vater beschloss, dass die Feldarbeit für Fen zu anstrengend sei. Er half ihr, in der Gegend eine Arbeit zu finden. Zwei Jahre lang arbeitete sie in einer Chemiefabrik, bis die chemische Industrie in die Krise kam. Gerade da hatte Fen ihren ersten Freund kennengelernt, der in Henggang, Shenzhen, auf dem Bau arbeitete. Zwei Monate später folgte Fen ihm nach Henggang. Es war zugleich das erste Mal, dass Fen von zu Hause wegging. Auf die Frage, welche Hoffnungen sie damals hatte, sagt sie, sie habe überhaupt nichts erhofft, sondern alles nur auf sich zukommen lassen.

Mir war damals nicht klar, warum ich überhaupt fortging. Eigentlich ging es nur um meinen Freund, der mich zu sich holte. Er ging zur Arbeit, während ich jeden Tag die Lebensmittel einkaufte, mich um Rechnungen kümmerte und solche Aufgaben übernahm. Damals hatte ich noch von nichts eine Ahnung. Ich hatte auch nicht vor, mir eine Arbeit zu suchen.

Das Zusammenleben mit ihrem Freund klappte überhaupt nicht, ständig stritten sich die beiden. Nach drei Monaten fuhr Fen wieder nach Hause. So endete ihre erste Liebe.

1995 verlor ihre große Schwester ihren Job. Zusammen mit Fen fuhr sie nach Dongguan in der Provinz Guangdong, wo sie Arbeit in einer Fabrik fanden, die Toaster herstellte. Ihre Aufgabe bestand darin, Maschinengehäuse mit Alkohol abzureiben. Normalerweise arbeiteten sie von sieben Uhr morgens bis Mitternacht, mussten also jeden Tag bis spät Überstunden machen. Da es nur wenige Pausen gab, war die Arbeit äußerst aufreibend.

Dieses Leben waren wir nicht gewohnt. Wir bekamen beide am ganzen Körper Ausschlag und wussten nicht, woher der kam. Als wir unseren Vater anriefen und ihm das erzählten, merkte er, dass es für seine Töchter in der Fremde nicht wie erwünscht lief und dass es uns gesundheitlich schlecht ging. Er forderte uns auf, nach Hause zurückzukommen.

Nach vier Monaten Arbeit kehrten sie zurück. Schon vor ihrer Abreise hatte Fen einer Heirat in ihrem Dorf zugestimmt, und die Hochzeit war bereits geplant. Als sie nun nach Hause kam, musste sie feststellen, dass der Mann sich um nichts gekümmert hatte. Sie wollte sich auf keinen Fall für ihr ganzes Leben in seine Obhut begeben und schlug ihm vor, sich zu trennen. Zu ihrer Überraschung reagierte er schroff und war unter keinen Umständen bereit, die Verlobung aufzulösen. Fen blieb nichts anderes übrig, als ein weiteres Mal fortzugehen.

Ich wollte dem entkommen. Wäre ich zu Hause geblieben, hätte er nicht locker gelassen. Kurz danach suchte die Arbeitsverwaltung Leute für die Region Chaozhou. Ich nahm das Stellenangebot an und ging dorthin.

Das war im Jahr 1996. Durch Vermittlung der »Behörde für die Entsendung von Arbeitskräften« kam sie nach Haifeng, Chaozhou, und arbeitete in einer Regenschirmfabrik. Dort erging es ihr aber nicht besser. Die Fabrik zahlte Stücklohn. Das waren monatlich etwa fünf- bis sechshundert Yuan, aber die Firmenleitung war mit den Lohnzahlungen immer im Rückstand. Arbeiterinnen, die Geld brauchten, mussten sich von zu Hause etwas schicken lassen. Außerdem war das Essen schlecht und die Lebensbedingungen insgesamt sehr beschwerlich.

Wir bekamen jeden Tag nur Kohl zu essen. Es gab kein Öl und keine Gewürze. Das Essen war nie gar gekocht und wir bekamen immer Durchfall davon. Allen, die damals gemeinsam eingestellt worden waren, erging es so.

Fen und einige andere aus ihrer Gegend konnten diese miesen Bedingungen nicht ertragen. Als sie nach zwanzig Tagen immer noch keinen Lohn bekommen hatten, beschlossen sie, die Fabrik zu verlassen. Laut Firmenvorschriften musste die Leitung eine schriftliche Erlaubnis erteilen, bevor man seine Sachen mitnehmen konnte. Aber sie erteilte keine Erlaubnis und der Wachschutz passte sehr genau auf. Also zogen Fen und die anderen so viele Kleidungsstücke wie möglich an, gingen raus in den kleinen Laden neben dem Fabriktor, zogen sie wieder aus, um dann erneut reinzugehen und die übrigen Sachen anzuziehen. Auf diese Art »entkamen« Fen und die anderen schließlich dieser Firma.

Kurz darauf nahm Fen mit einigen anderen aus ihrer Gegend den Zug nach Chang’an, ein Stadtbezirk von Dongguan, und fing in einer Elektronikfabrik an. Die Bedingungen dort waren nicht schlecht, das Management dagegen war sehr streng. Fen seufzt tief:

Vielleicht hatte ich mich zu sehr an Lockerheit und Nachlässigkeit gewöhnt! Diese Fabrik wurde äußerst streng geführt. Beim Betreten der Fabrikhalle mussten wir zwei Mal die Schuhe wechseln. Nachdem wir die Arbeitskleidung angezogen und mit der Arbeit begonnen hatten, durften wir nicht mehr sprechen und mussten Parolen rufen wie

»Qualität zuerst« oder »Die Firma ist deine Familie«, so in der Art. Mir ging das auf die Nerven. Das Essen war auch nicht nach meinem Geschmack. Ich wollte da nicht arbeiten. Aus all diesen Gründen blieb sie nur ein paar Tage und kehrte dann nach Hause zurück.

Eine Qualifikation

Mehrere Jahre lang arbeitete Fen immer nur für ein paar Monate oder wenige Tage und fuhr dann wieder nach Hause. Bei diesen kurzen Arbeitseinsätzen konnte sie keine Qualifikationen erwerben und kaum Berufserfahrung sammeln. Ihre Eltern fingen an, sie zu kritisieren: Fen zeige keine Ausdauer bei den Dingen, die sie tue, sie könne nichts durchhalten und zu Ende bringen. Fen selber war klar, dass sich nichts ändern würde, wenn sie so weitermachte. Deswegen entschied sie sich, eine Qualifikation zu erwerben – und lernte Autofahren.

Ich dachte dabei auch langfristig. Ich war schon über zwanzig, als ich den Führerschein machte. Aber ich wusste, wenn ich dreißig oder vierzig bin, kann ich immer noch Auto fahren. Bei uns im Ort war es einfach, bei anderen Leuten als Fahrerin auszuhelfen. Meine Eltern hatten nicht genug Geld, aber einige meiner Freunde unterstützten mich und sammelten. Damit konnte ich den Führerschein machen. Mein Vater war damit nicht einverstanden. Er dachte, es sei zu gefährlich, wenn eine junge Frau Auto fährt. Aber als ich den Führerschein in Händen hielt, hatte er nichts mehr dagegen. Er kaufte mir sogar einen »Chang’an«. Das war kein gutes Auto, aber so konnte ich zu Hause herumfahren und Fahrpraxis bekommen.

Mit dem Autofahren konnte sie in einem Monat mehr als zweitausend Yuan verdienen und war außerdem relativ unabhängig. Das war viel besser als in der Fabrik.

Autofahren ist auf jeden Fall besser. Du kriegst das Geld bar auf die Hand, nicht wie in der Fabrik, wo du erst nach einem Monat was bekommst und der Lohn manchmal nicht pünktlich gezahlt wird. Zudem entscheidest du selber, wann du Auto fährst, nicht wie in der Fabrik, wo alles strikt geregelt ist.

Die »Liebesfalle«

Als Fahrerin im Heimatort hatte Fen jetzt immerhin einen festen Beruf. Sie konnte sich glücklich schätzen, als alleinstehende Frau monatlich über zweitausend Yuan zu verdienen, und sie musste jetzt nicht mehr in die Städte im Süden fahren, um dort zu arbeiten. Hätte sie sich nicht in ihren jetzigen Ehemann verliebt und hätte das nicht zu Verwicklungen geführt, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen wieder fortzugehen. In den zwei Jahren, in denen sie als Fahrerin arbeitete, lernte sie Hai kennen, einen Kollegen. Er war damals verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Frau war katholisch, kümmerte sich aktiv um kirchliche Belange und fuhr oft zu auswärtigen Versammlungen und Schulungen. Sie war daher selten bei ihrer Familie, und Hai musste sich neben der Arbeit noch um die Kinder kümmern. Er empfand das als sehr belastend, und ihre Beziehung geriet in die Krise.

Für Fen war Hai immer nur ein guter Freund. Sie zeigte Verständnis für seine schwierige Situation und half ihm hier und da bei seiner Arbeit. Hai konnte sich bei ihr seine Probleme von der Seele reden, was bei Hais damaliger Ehefrau und anderen Leuten zu Missverständnissen führte.

Hais Frau kam zu uns nach Hause und sagte mir sehr hässliche Dinge. Sie ließ andere Leute bei meinem Vater anrufen, die ihm sagten, er solle auf mich aufpassen. Meinen Vater regte das mächtig auf. Er meinte, er würde durch mich noch sein Gesicht verlieren. Er schlug mich.

Als Fen darüber spricht, erlebt sie noch einmal die Ungerechtigkeit. Sie war damals sehr erbost, weil Hais Ehefrau sie bloßgestellt hatte. In einer Art Trotzreaktion wollte sie jetzt doch eine Beziehung zu Hai.

Ich hatte gar nicht vorgehabt, mit Hai zusammenzuleben. Schließlich hatte er schon zwei Kinder und ich war noch nicht verheiratet gewesen. Wie hätten mich seine Kinder akzeptieren können? Aber als ich hörte, welche Gerüchte die Leute verbreiteten, wurde ich böse. Jetzt musste ich Hai heiraten, sonst würde sie (Hais frühere Ehefrau) meinen guten Ruf zerstören. Sie fing an, mir Männer vorzustellen, mit denen sie befreundet war. Besonders erboste mich, dass sie mir einen etwa vierzig Jahre alten Mann präsentierte, der zudem schon drei Mal verheiratet gewesen war. Ich beschloss, nun erst recht nicht auf ihren Ehemann zu verzichten, was sie vollkommen aus der Fassung brachte.

Indem Hais Frau Fen verletzte, provozierte sie die Trennung von ihrem Ehemann. Nach der offiziellen Scheidung begann Hai, um Fen zu werben, und sie gingen eine Beziehung ein. Fens Familie war entschieden gegen diese Verbindung. Sie wollte nicht, dass Fen einen Mann heiratet, der geschieden ist und zwei Kinder hat. Fens Vater drohte ihr sogar, sie müsse sich zwischen ihrer Familie und Hai entscheiden.

Auf der einen Seite standen meine Eltern, die mich über zwanzig Jahre lang großgezogen hatten, auf der anderen Seite war der Mensch, den ich wirklich von Herzen liebte. Beide waren mir sehr wichtig. Schließlich entschied ich mich für Hai. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, Hais Kinder ohne jemanden zu sehen, der sich um sie kümmerte. Ich konnte auch nicht ertragen, dass Hai traurig würde. Vielleicht verstehen meine Eltern mit der Zeit, warum ich mich so entschieden habe.

Die Geschichte macht Fen sehr traurig.

Am Tag unser Hochzeit gab es keine Feier. Wir nahmen nur unsere Heiratsurkunde in Empfang. Die Eltern wussten gar nichts davon. Sie waren schon verletzt. Da wollte ich ihnen nicht noch mehr Schmerzen bereiten.

Es bleibt nur die Flucht

Über ein Jahr nach der Hochzeit waren Fens Eltern noch immer verstimmt. Die ganze Zeit über hatte Fen sie nicht besucht und keinen Versuch unternommen, sich mit ihnen zu versöhnen. Sie hatte keinen Kontakt mit ihnen und wartete einfach ab, ob die Eltern ihre Haltung ändern würden. Hai dagegen fand das alles äußerst ungerecht.

Auf Zureden ihrer Tante besuchte Fen zum Frühlingsfest 2001 alleine ihre Eltern. Fens ältere Schwester wollte gerade nach Shenzhen gehen, um dort zu arbeiten. Die Eltern drängten Fen, ihre Schwester zu begleiten und nicht wieder zu ihrem Mann zurückzukehren. Sie wollten sie nicht mal mit ihrem Ehemann sprechen lassen. Fen schlich sich heimlich nach Hause und redete mit Hai darüber. Er zeigte jedoch kein Verständnis für ihre Probleme, was sie sehr traurig machte. Am selben Abend gerieten sie sich heftig in die Haare. Hai fuhr sie wütend an:

Entweder brichst du mit deinen Eltern, oder wir trennen uns!

Fen konnte nichts mehr sagen und brach sofort in Tränen aus. Die Eheleute waren nicht in der Lage, ihr Problem zu lösen, und die Eltern blieben hart. So beschloss Fen, mit der Schwester zu gehen, um erst einmal Abstand zu gewinnen.

In Shenzhen angekommen, fand Fen Arbeit in einer Elektronikfabrik. Die Tätigkeit war nicht sehr anstrengend und es mussten täglich nur wenige Überstunden gemacht werden. Dafür war der Lohn niedrig, einschließlich Überstunden nur vier- bis fünfhundert Yuan monatlich. Die Firmenleitung stellte nicht mal das Essen, so dass nach Abzug der monatlichen Ausgaben nichts mehr übrigblieb. Fast ein halbes Jahr lang schickte Fen kein Geld nach Hause.

In dem halben Jahr, in dem ich zum Arbeiten unterwegs war, stand Hai enorm unter Druck. Zu Hause sagten viele Leute, ich würde wohl gar nicht mehr zurückkommen. Er ist sehr selbstbewusst und hoffte die ganze Zeit, dass ich zurückkehren werde. Das hat er mir aber nicht offen gesagt. Trotzdem war er in dieser Zeit immer gut zu mir. Ich hatte eine Frauenkrankheit und von Zeit zu Zeit schickte er mir Medikamente.

Als Fen von der Fürsorglichkeit ihres Ehemanns spricht, strahlt sie glücklich. Aber sie macht sich Sorgen, weil ihre Familie ständig von ihr verlangt, sich scheiden zu lassen. Dabei lieben sich die beiden immer noch. Und sie muss auch an die Kinder denken. Sie will sich nicht einfach scheiden lassen. Jetzt will sie erst mal nach Hause zurückkehren und ihre Krankheit behandeln lassen. Sobald sie wieder gesund ist, will sie das Problem mit Hai lösen.

Als ich nach Hause kam, hofften meine Eltern sehr, ich würde bei ihnen bleiben. Aber ich habe mich nicht scheiden lassen. Mein Mann stand so unter Druck, da konnte ich ihn gar nicht verlassen. Ich weiß zwar nicht, was nach meiner Rückkehr passieren wird. Aber ich will weiter mit Hai zusammenleben. Natürlich wäre es schöner, wenn meine Eltern ihn akzeptieren würden.

Am Ende fragen wir Fen noch, wie sich das mehrmalige Fortgehen für sie ausgewirkt hat.

Als ich das erste Mal fortging, fand ich noch alles neu und interessant. Beim zweiten und dritten Mal war ich schon abgestumpft. Keine Ahnung, was ich da fühlte. Dieses Mal bin ich nach Shenzhen gekommen, weil ich einen Ort zum Erholen suchte. Aber ich habe keine Ruhe gefunden. Ich denke, zum Arbeiten fortzugehen bedeutet auch, immer wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

Es ist offensichtlich, dass Fen ihre Familie sehr vermisst. Nach dem Interview fährt sie noch am selben Abend nach Hause zurück. Wenig später ruft sie an und erzählt uns, Hai sei in der Zeit, in der sie zum Arbeiten unterwegs war, wieder zu seiner Ex-Frau zurückgekehrt. Später bekomme ich noch einen Brief von Fen, in dem sie ihre Beziehung analysiert:

Hallo! Entschuldige vielmals, ich konnte nicht schreiben, weil ich immer mit meinen Eheangelegenheiten beschäftigt war, seit ich zu Hause bin. Ich hoffe, Du kannst für mich alle Freundinnen im »Arbeiterinnen-Zen- trum«2 grüßen. Ich möchte allen für ihre Anteilnahme danken.

Von Hai habe ich mich bereits scheiden lassen. Damit ihr das versteht, muss ich von unserer Vergangenheit sprechen. Als ich Hai kennen lernte, hatte er eine Familie. Aus verschiedenen Gründen hat er sich dann von seiner Frau scheiden lassen. Bevor wir zusammenkamen hatten wir schon viele stürmische Zeiten durchgestanden. Auch wenn wir jetzt geschieden sind, liebe ich ihn noch immer, mehr als mein Leben. Gerade weil ich ihn liebe, habe ich mich von ihm scheiden lassen. Erstens ist seine große Tochter schon fünfzehn, alt genug, um alles zu verstehen. Sie war beeinflusst von anderen und hatte keinen Respekt gegenüber ihrem eigenen Vater. Sie lehnte sich gegen ihn auf und beschimpfte ihn sogar mit dreckigen Worten. Zweitens wurde Hai von meinen Eltern lange Zeit ignoriert. Manchmal machten sie ihn lächerlich, was ihn sehr kränkte. Drittens war seine frühere Frau damals oft unterwegs, weil sie für ihre katholische Kirche etwas zu erledigen hatte. Hai fehlte lange Zeit die Geborgenheit der Familie und er gab seine Frau auf. Jetzt sind die Kinder herangewachsen und seine Frau will die frühere Ehe wiederbeleben. Viertens musste er sich jeden Tag das Gerede über uns anhören, das hat er einfach nicht ausgehalten. Das sind die vier wichtigsten Gründe, die zu unserer Scheidung geführt haben.

Vielleicht verdiene ich kein Mitgefühl, aber ich will mich auch nicht runterziehen lassen. Ich stehe zu Hai und unserem gemeinsamen Versprechen. Zwei Menschen, die sich wirklich lieben, werden im Herzen immer zusammenbleiben, auch wenn sie sich getrennt haben. Eine angemessene Arbeit habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht werde ich wieder als Fahrerin arbeiten. Der Straßenverkehr ist allerdings gefährlich, deswegen denke ich auch über eine andere Arbeit nach. Im Grunde fühle ich mich schwach. Die drei Jahre, in denen ich mit Hai verheiratet war, waren schmerzvoll und traurig. Oft habe ich daran gedacht, wegzulaufen.

Nun habe ich dir alles erzählt, was es zu erzählen gibt. Kann ich dir noch eine Frage stellen? In der Zwischenzeit wurden mir viele Männer vorgestellt, aber mein Gefühl zu Hai ist so aufrichtig und tief, dass ich keinen anderen Menschen an mich herankommen lassen kann. Meine Eltern hoffen, dass ich mich für jemanden entscheiden werde. Kannst du mir sagen, wie ich das machen soll?

Ich denke an euch alle und wünsche euch Glück und Gesundheit!

Fen, 26. November 2001

Von der Entwicklung in Fens Ehe waren wir völlig überrascht. Wir waren davon ausgegangen, dass sie es schaffen würde, ihre Eltern zu überzeugen, damit sie Hai endlich akzeptieren. Wer konnte ahnen, dass sich in nur einem halben Jahr alles so verändern und die gutherzige Fen so verletzt werden würde. Wir hoffen, dass sie bald nicht mehr so traurig ist und sich wieder um ihr eigenes Leben kümmert. Wir wünschen ihr eine bessere Zukunft und hoffen, dass sie ihr verdientes Glück finden kann.


Fußnoten

1 户口 hu kou, staatliche Haushaltsregistrierung.

2 Treffpunkt des Arbeiterinnen-Netzwerks, 女工关怀 nü gong guan huai, das auch dieses Buch in China her­ausgegeben hat. Siehe dazu das Vorwort.

 

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