Vorwort: Die andere Kulturrevolution

von Ralf Ruckus (März 2019) | Die andere Kulturrevolution von Wu Yiching


Sechzig Jahre sind vergangen seit dem Ende der heißen Phase der Kulturrevolution, warum sollten wir uns also mit einem solch staubigen Thema befassen, fragt Wu Yiching am Anfang seines Buches. Weil eine Analyse der Kulturrevolution Mitte bis Ende der 1960er uns nicht nur Hinweise gibt, wie der historische Sozialismus in China als Klassengesellschaft funktionierte. Sie zeigt auch, warum die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in den 1970er Jahren nicht nur – unbeabsichtigt – das Ende des Sozialismus einleitete, sondern auch den Weg ebnete für Chinas kapitalistischen Aufschwung, der seitdem das Land selbst und mittlerweile die ganze Welt entscheidend geprägt hat.

Die Kulturrevolution als Schlüssel für ein besseres Verständnis von historischem Sozialismus, seinen „postsozialistischen Mutationen“ und dem heutigem Kapitalismus in China? Das mag zunächst sonderbar klingen, wenn wir uns die sonst von Unterstützern oder Kritikern vorgeführten spektakulären Bilder vor Augen führen, welche die Kulturrevolution als schillerndes Ereignis oder bloßen Exzess zeigen (sollen). Massenaufmärsche fanatischer Roter Garden, öffentliche Bestrafungen von Kadern und gewalttätige Fraktionskämpfe bestimmen sonst die Berichterstattung und Erinnerung der Kulturrevolution – in China wie hier. BeobachterInnen verschiedener politischer Couleur sind sich darin einig, dass Mao Zedong und andere Parteiführer für das Auslösen der Kulturrevolution und die Jahre des Chaos, des Tumults und der zügellosen Gewalt verantwortlich waren. Schließlich wollten diese ihre Machtposition innerhalb der KPCh wiedererlangen oder festigen und mobilisierten die Massen, um sich politische Gegner vom Hals zu schaffen.

Wu sieht hinter dieser Projektion von Machtkämpfen innerhalb des Regimes und der inszenierten Massenereignisse eine weitere Ebene, die er offenlegen will. Sein Buch bietet insofern keine gewöhnliche Darstellung der Ereignisse, sonst würde es vor allem um die Führer Mao Zedong, Liu Shaoqi, Lin Biao, die „Viererbande“ und die offizielle Erzählung von Roten Garden, Konservativen und Rebellen gehen. Vielmehr bietet Wu eine Ansicht
der „anderen“ Kulturrevolution, die sonst nur an den Rändern der herkömmlichen Chroniken auftaucht – oder überhaupt nicht. Denn kaum hatte Maos Clique die Rebellion gegen ihre Gegner innerhalb der Partei losgetreten, nutzten Millionen von Menschen aus unzufriedenen, diskriminierten, degradierten und ausgeschlossenen sozialen Gruppen die Möglichkeit, sich gegen die Machthaber der Partei zusammenzuschließen und den Kampf für ein besseres Leben aufzunehmen: befristete ArbeiterInnen, landverschickte Jugendliche und städtische ProletarierInnen, gebrandmarkte schwarze Elemente und andere mehr. „Weitgehend von oben begonnen, war es in der Kulturrevolution zwar leicht, die Masse unterdrückter Energie explodieren zu lassen, jedoch deutlich schwieriger, die Reichweite der Explosion zu begrenzen“, schreibt Wu.

In seinem Buch konzentriert er sich auf die Geschichte dieser zentralen Akteure der Revolten und beschreibt detailreich die spektakulären und durchaus widersprüchlichen Kämpfe der rebellischen Roten Garden aus schwarzen Kategorien in Beijing, der prekären Arbeiterrebellen Shanghais und der widerständigen proletarischen Massengruppen in der Provinz Hunan. Was sich dort entwickelte, war Klassenkampf von unten – selbstorganisiert, subversiv, zum Teil gewalttätig und gegen die Unterdrückungsbedingungen und damit die alten und neuen Herrscher der Partei gerichtet. Unter den Millionen der an diesen Kämpfen beteiligten Menschen waren einige, die daraus von der damaligen politischen Sprache bestimmte revolutionäre Analysen und Programme entwickelten, deren Spuren Wu in seinem Buch folgt. Diese Kritiken blieben fragmentarisch und provisorisch, aber sie beschrieben deutlich die Konfrontation von Unterdrückten und Unterdrückern im sozialistischen China und hatten großen Einfluss auf die kulturrevolutionären Diskurse und auch spätere Protestbewegungen.

Linke BeobachterInnen mögen nun einwenden, dass Mao und die „Linken“ in der KP-Führung doch den Klassenkampf im sozialistischen China erkannt und gegen die Bürokratie und die Überreste der vorrevolutionären kapitalistischen Klassen die „permanente Revolution“ ausgerufen hätten. Schließlich galt der Maoismus auch in westlichen Oppositionsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre als subversiver als der Revisionismus in der Sowjetunion oder der DDR. Wu räumt mit solchen Illusionen auf und zeigt, dass die maoistische antibürokratische und antikapitalistische Kritik vor allem gegen einzelne Bürokraten und vermeintlich alte wie neue „Kapitalisten“ gerichtet war, während das sozialistische Klassensystem als solches für die Parteiführer nie zur Disposition stand. Als ihnen 1967 und 1968 die Kontrolle über die Massenmobilisierung entglitt, setzten sie folgerichtig die Armee ein, um das System und ihre Herrschaft zu retten. Die vorher mobilisierten Roten Garden und andere Rebellen wurden mithilfe des Militärs aufs Land verbannt, verhaftet, geschlagen oder getötet, um den Sozialismus und
seine Profiteure zu retten – die tatsächlich blutigste Phase der Kulturrevolution und ihr Ende.

Wu zeigt, welche Strategien das Regime neben der Repression wählte, um die drohende Revolution in der Revolution zu verhindern und die eigene Klassenherrschaft zu verteidigen. Teile der vormals unbändigen Gruppen und ihre politischen Forderungen wurden absorbiert, eingegliedert und befriedet, sowohl Ende der 1960er als auch noch einmal Ende der 1970er Jahre, als das postmaoistische Regime unter Deng Xiaoping die Demokratiebewegungen, an denen viele ehemalige Rebellen der Kulturrevolution teilnahmen, erst funktionalisierte – und dann gnadenlos unterdrücken ließ. Von der Leine gelassene Massenbewegungen, welche die Grundfeste der sozialistischen Klassenordnung in Frage stellten, wurden jeweils ab- und eingefangen. Repression und Absorption, Gefängnis und staatliche Posten, das sind die Eckpunkte einer Herrschaftsstrategie gegen aufkommende Bewegungen und ihre (potentiell) subversiven Kerne, die bis heute gilt (und immer wieder funktioniert) – nicht nur in China, sondern auch in anderen Teilen der Welt.

Für Wu waren die Reformen der 1970er Jahre das Eingeständnis, dass die alten maoistischen Herrschaftskonzepte der Massenmobilisierung und Kontrolle nicht mehr funktionierten – wie die Kulturrevolution dem Regime so schmerzhaft gezeigt hatte – und nun Experimente und Reformen notwendig waren, um der Klassenherrschaft eine andere wirtschaftliche und politische Basis zu geben. Die Kulturrevolution mündete also in Krisenbewältigungsversuche des Regimes, weil der soziale und politische Druck durch die Subversion von unten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und danach das Regime zu Reformen zwang. Der kommunistische Weg war letztlich nur ein „Umweg“, führte er doch nach all den sozialen Tumulten und den Gegenmaßnahmen des Regimes zum Kapitalismus. Auch wenn sich Chinas Wirtschaftssystem von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einem kapitalistischen System mit starker staatlicher Kontrolle entwickelt hat, handelte es sich nicht um eine „zweite Revolution“. Hinter dem Bruch des ökonomischen Systems ist die Kontinuität einer Klassenherrschaft zu erkennen, an deren Spitze eine transformierte KPCh und die biologischen Nachkommen der alten Führungsschicht als „rote Bourgeoisie“ stehen, die weiterhin und über alle Maßen von den Ausbeutungsstrukturen profitieren und diese mit aller Macht verteidigen.

Wu entwickelt in seinem Buch Ansätze einer grundlegenden Kritik des Sozialismus in seiner Fixierung auf Staatsmacht und autoritäre Kontrolle, die er für das Scheitern der Chinesischen Revolution des 20. Jahrhunderts verantwortlich macht. Er will damit nicht nur historiografisch den Kern der sozialen Rebellion der 1960er Jahre in China freilegen, sondern sieht seine Erzählung auch als Teil eines Lernprozesses für aktuelle und zukünftige revolutionäre Versuche. Aus den Fehlern und Wirren des Realsozialismus zu lernen, ist eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung neuer revolutionärer Praxen. Diese müssen sicherstellen, dass in den Kämpfen und neuen gesellschaftlichen Formen keine neuen autoritären Strukturen entstehen. Wu benutzt hier leichtsinnig den Begriff der Demokratie, stellt jedoch klar, dass er nicht die westliche Form der kapitalistischen Demokratie meint, sondern eine tatsächliche Kontrolle von unten als Basis des revolutionären Projekts.

Dass die heutige Führung der KPCh (wie auch viele Kommentatoren aus dem bürgerlichen Lager im Westen) die subversiven Kämpfe der Kulturrevolution ignorieren oder unter den Tisch kehren, ist kein Zufall. Weder das damalige, noch das heute Regime der KPCh hatte je ein Interesse, die untergründige Geschichte dieser Kämpfe gegen die Klassenherrschaft in Erinnerung zu rufen, will sie doch jenen (und jeden) Versuch revolutionärer Veränderung verteufeln und verhindern. Die Erfahrungen von damals lassen sich
aufgrund ihrer Breite und Bedeutung jedoch nicht komplett aus der historischen Erinnerung löschen, deswegen werden immer wieder die einfachen Bilder von Tumult und Gewalt hervorgeholt, um subversiven Erzählungen keinen Raum zu lassen.

Dies ist ein wichtiges Buch, nicht nur wichtig im Sinne von lesenswert, interessant und inspirierend, sondern wichtig als Schritt zu einer notwendigen Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit. Es rückt Perspektiven gerade und räumt mit Illusionen auf, die politisch in die Irre führen. Es liefert erhellende Einblicke nicht nur in die Geschichte des Maoismus und seine Rolle für den Übergang zum Kapitalismus in China, sondern auch in den Zusammenhang zwischen linken Befreiungskonzepten und ihrer Umsetzung
allgemein. Es zeigt auf, wie bisherige Analysen der Kulturrevolution meist nur grob die geschichtlichen Ereignisse abspulen, und erst die Veränderung der Perspektive, ein Blick von den Rändern, der die Massen, ihre Kämpfe und Konzepte in den Blick nimmt, diese Revolution „denkbar“ machen kann. Das Buch ist angetan, die Auslöschung der Erinnerung zu verhindern, die revolutionären Erfahrungen nachzuzeichnen und so einen Beitrag zu leisten zur Diskussion und Vorbereitung neuer revolutionärer Versuche.

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